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Ich habe lange überlegt, was ich eigentlich zum Thema Suizid zu sagen habe. Mir ist dann aufgefallen, dass meine ersten drei Fälle, die ich damals in der Bestattung erlebt habe, Suizide waren…

Ein Zufall?

Drei Männer

Ich machte damals ein Praktikum bei einem Bestattungsinstitut gemacht, einfach weil ich wissen wollte, was Trauernde erlebt haben, die um einen geliebten Menschen trauern und dann zu mir in die Begleitung kommen.
Meine erste Versorgung – so nennt man eine Totenwaschung – fand an einem Vormittag statt. Es war ein junger Mann, der sich suizidiert hatte.

In 2020 suizidierten sich knapp 10.000 Menschen, 75% davon Männer. Frauen unternehmen zwar häufiger Suizidversuche, jedoch sterben mehr Männer durch Suizid.(I) Und tatsächlich sterben mehr Menschen durch Suizid, als durch Drogen, Verkehrsunfälle, HIV oder Mord gemeinsam.(II)

Wie so oft bei Suizid, hatte auch hier der junge Mann mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen und auch schon einige Versuche hinter sich. 90% aller SuizidentInnen leiden an psychischen Krankheiten/Störungen, mehr als 50% unter Depressionen.(III)

Er war damals der erste Tote, den ich überhaupt berührte und die Kälte begleitete mich einige Tage.

Für mich war Suizid immer schon eine weitere Art zu sterben, nie etwas „Abnormales“ oder „Absonderliches“, so wie es viele Religionen uns heute immer noch beibringen möchten. Ich kenne noch Menschen, die nur ein paar Jahre älter sind als ich, aber die noch mit dem Glauben aufwachsen mussten, dass Menschen, die durch Suizid sterben nicht in den Himmel oder das Paradies gelangen können und dass sie nicht mal auf dem Friedhof beerdigt werden dürfen.

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stockSnap pixabay

Suizid im Wald

Der zweite Berührungspunkt war eine Abschiednahme im Krematorium. Es war das erste Mal, dass ich ein Krematorium von innen sah. Etwa 80 Freunde und Verwandte kamen, es war ein warmer Sommertag. Ich wusste nicht so recht, was mich erwartet. Wir brachen gegen 10 Uhr auf und würden praktisch den ganzen Tag im Krematorium verbringen. Es wurde geräuchert, gesungen, gelacht, geweint. Wieder hatte sich ein junger Mann suizidiert, er war so Mitte-Ende 30 und seine Verwandtschaft ging sehr offen mit seiner bipolaren Störung um (früher hieß das „manisch-depressiv“). Sie hatten seinen Sarg selbst gebaut und bemalt. Manche erzählten Geschichten von ihm. Es war beeindruckend und für diesen Nachmittag blieb irgendwie die Zeit stehen. Gegen 19 Uhr war ich wieder Zuhause, hatte nichts gegessen und musste erstmal wieder in der Welt der Lebenden ankommen.
Die Ex-Frau des Verstorbenen hatte gesagt, dass sie alle um seinen Zustand wussten und dass es nichts gegeben hätten, was sie noch hätten tun können.
Ich fand diese Aussage so wahnsinnig befreiend, denn irgendwie stehen bei einem Suizid immer Schuld und Vorwürfe im Raum.

Wieso habt Ihr nichts bemerkt?“

Was stimmt denn in Eurer Beziehung nicht, dass Du das nicht gewusst hast?“

Wie verkorkst seid Ihr, dass sich jemand bei Euch umbringt?“

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pexels odintsov

Suizid ist das Tabu im Tabu. Nicht selten berichten mir Suizid-Trauernde, dass Nachbarn oder Bekannte die Straßenseite wechseln, wenn man sich unterwegs begegnet. Oder dass voyeuristisch nachgefragt wird, „Wie er/sie es denn getan hat?“.

Suizid fasziniert uns und gleichzeitig kann ja, mit Suizident*innen etwas nicht stimmen.
Ihr bemerkt vielleicht beim Lesen, dass ich ausschließlich das Wort Suizid verwende oder auch manchmal „das eigene Leben beenden/nehmen“. „Selbstmord“ ist veraltet und impliziert eine Straftat, den Mord. Bitte verwendet dieses Wort nicht mehr.


Sonntagmorgens in Berlin

Mein dritter Berührungspunkt war dann tatsächlich mein erster alleiniger Hausbesuch als Bestatterin. Mein damaliger Chef sagte „Ach, das schaffst Du auch alleine“ und ich fragte „Was soll ich denn da machen?“ und er sagte nur „Einfach zuhören“.

Und so war es auch. Der Vater der Familie bzw. der Ehemann hatte sich suizidiert. Zwei Jahre nach der Rente. Ich kaufte Kekse und Blumen und stand eines Sonntagsvormittags in einem fremden Wohnzimmer. Es war tatsächlich so, dass ich nur zuhörte. Irgendwann fragte ich, ob er es sei, auf dem Foto, im Regal. Die Witwe holte ein Album hervor, Hochzeitsfotos aus den 60ern. Sie lachte zum ersten Mal wieder und erzählte die komplette Geschichte ihres Kennenlernens, damals noch per Brief. Der Sohn saß wort- und regungslos im Sessel, starrte vor sich hin. Die Tochter funktionierte und kümmerte sich um Bürokratie und Formalitäten.

Immer wieder brach die Witwe in Tränen aus und konnte nichts von dem begreifen, was gerade passierte. Dass ihr Mann Suizid begehen würde schien so abwegig, wie Schnee im August. Und doch war es passiert.

Mein Chef nannte es „Unfall der Seele“. Ich versuchte damals ein wenig zu erklären: Die Familie berichtete, dass der Ehemann und Vater an chronischen Rückenschmerzen litt, für die kein Arzt eine Erklärung finden konnte. Es gibt die sogenannte „verdeckte Depression“, die sich rein körperlich äußern kann. Der andere Sohn der Familie war zuvor verstorben und wir mutmaßten, dass der Vater vielleicht nie den Schmerz seines Verlustes verarbeiten konnte. „Bei uns wird nicht so viel geredet“ sagten sie.
Sie werden wahrscheinlich nie den genauen Grund erfahren haben. Etwas, das viele Angehörige nach einem Suizid begleitet. Unwissenheit, sich Dinge nicht erklären können, Schuldgefühle.

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pexels zimmermann

Ich kann nur immer wieder sagen, dass es heutzutage viel Hilfe für Hinterbliebene nach Suizid gibt. Nutzt sie. Ihr seid nicht allein. Wenn jährlich knapp 10.000 Menschen an Suizid sterben und im Durchschnitt ca. 8 Trauernde zurückbleiben, so sind dies mindestens 80.000 Menschen pro Jahr, die eine ähnliche Erfahrung machen. Unterstützt Euch, sprecht über Eure Trauer und lasst Euch begleiten.

Und wenn Euch eine Familie begegnet, die einen Suizid erlebt hat: Nein, man kann es nicht immer „merken“ oder „wissen“. Ich kenne Geschichten in denen Menschen in psychologischer Behandlung waren und der Psychotherapeut es bis zuletzt nicht „gemerkt“ hat. Ihr wärt erschrocken, wenn Ihr wirklich „merken“ würdet, wie viele Menschen in Eurem Umfeld unter psychischen Herausforderungen leiden, ohne, dass jemand davon weiß.

Und warum ist das so? Weil wir daraus ein Tabu machen. Immer noch.

Lasst uns darüber reden. Lasst uns offen mit psychischen Herausforderungen umgehen. Umso mehr Menschen Bescheid wissen, umso mehr Aufklärung es gibt und umso leichter kann es für alle Beteiligten werden damit umzugehen.

Comments 1
  1. Liebe Alexandra, danke für deinen Artikel. Ich bin eine der vielen Suizid-Hinterbliebenen und finde solche Texte unglaublich wichtig. Das mit dem „Straßenseite wechseln“ kann ich mir nur schwer vorstellen. Welchen Grund haben denn Leute für so ein Verhalten? Ich selbst habe eher die Erfahrung gemacht, dass den Menschen einfach die Worte fehlen, sie nicht wissen, ob und wie sie das Thema ansprechen sollen. Ich gehe inzwischen (aber das hat sehr lange gedauert) offen damit um und konnte seither einige gute Gespräche führen.

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