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Aus dem Nichts legt sich ein bleischwerer Mantel über meine Schultern und erdrückt mich schier. Ich bin nicht hochgewachsen und werde noch kleiner unter ihm, als würde ich allmählich dem Erdboden gleich gemacht. Dieser Mantel fühlt sich kalt und steif an und lässt meine Bewegungen erstarren. Wie gelähmt harre ich aus und warte darauf, dass er mir wieder abgenommen wird, vergeblich. Die Schwäche bleibt und dringt in meine Poren ein, trübt meine Sinne und befällt jede meiner Zellen. Ein eisiger Nebel durchdringt meine Lebensgeister. Als dürstender Schleier saugt er sie aus, die sonst so wach und übermütig mein Leben bestimmen. Ich werde leer und abgestumpft. Hilflos schaue ich einen Moment dem Verwelken meines eigenen Lebens zu. «Was geschieht mit mir?» Irgendwann sagt mir ein Arzt: «Sie haben Krebs.» Ein Schrecken überfällt mich. «Ist das mein Ende?» Wie erstarrt sehe ich mein noch junges Dasein vor mir auseinanderfallen. Doch nicht für lange, ich entfliehe dem Schock, indem ich versuche zu ergründen, was mir das Leben sagen will. Innehalten, zur Besinnung kommen und hinter die Fassade der guten Laune blicken, vielleicht?

Die Suche nach meinen Tränen

Ich gebe mich der Schwäche hin, die mit jeder Chemotherapie noch mehr von meiner Energiequelle austrocknet. Aufmerksam schaue ich auf die Narben, die dabei zum Vorschein kommen. Wie durch eine Landschaft begehe ich mein Innenleben. Ich entdecke längst vergessene Wunden, die jucken und brennen und nach Pflege rufen. Auf einmal dringen neue Ängste wie Geister durch das dunkle Dickicht in den versteckten Winkeln meiner selbst. Ich fürchte mich vor ihnen und ich habe Angst, vom Strom der nicht geweinten Tränen mitgerissen zu werden. Doch sie bleiben aus, das Flussbett liegt weiterhin leer da. Es scheint, als habe mein bisheriges Leben meine Tränendrüsen ausgetrocknet. Wie eine einsame Wandersfrau in der Wüste schleppe ich mich durch eine aufkommende Hitze, begleitet vom quälenden Durst nach frischem Wasser, das mich von innen nach aussen erfrischen und reinigen soll. Ausgehungert auf meinen Lebensnerv ringe ich um jeden weiteren Schritt. Ich habe Hunger nach dem Leben, nach der Leichtigkeit und nach Menschlichkeit.

Der Tod streichelt meinen Geist

Unter dem Mantel der Schwäche fühle ich mich ohnmächtig, eingeschränkt und verletzlich, wie nie zuvor. Die Schwere hält sich fest an mir, an meinem Rücken, im Nacken und an den Beinen. Sie krallt ihre spitzen Fingernägel in meine Haut und gräbt sich tief hinein bis auf den Kern meiner Existenz. Sie zerkratzt meinen Lebensmut und legt sich als eine Last auf meine Brust. Mir bleibt der Atem weg. Ich spüre, es liegt ein Hauch vom Tod in der Luft. Nicht greifbar und doch ganz deutlich schiebt er sich in mein Bewusstsein. Gewillt auch ihm zu begegnen, öffne ich mein Herz. Es besteht eine reelle Gefahr, dass ich ihm meinen Körper bald überlassen muss. In den Minuten bedrückender Schwere nimmt das Sterben Gestalt an und bringt mich ganz zu mir. Auf eine seltsame Weise bleibe ich entspannt. Eine leise Stimme ermutigt mich, vor dem Tod nicht Angst zu haben und ich spüre das Vertrauen, dass er gnädig mit uns Menschen ist. Doch wenn ich an meine Kinder und meinen Mann denke, an meine Familie und Freunde, an mein Leben und meine Wünsche, dann schiesst ein heftiger Schmerz in meine Brust und zerdrückt mein Herz wie eine Zitrone. Es blutet aus und ersetzt meine Tränen, die ich so gerne weinen möchte. Grosse Tropfen lösen sich und bilden eine tiefrote Pfütze in meiner Magengrube, mir wird übel dabei. Ich würde alles auf einen Schlag verlieren, alles, was ich kannte, alles, was ich liebe, alles, was ich bin. «Würde ich in Vergessenheit geraten, ausbleichen wie die Schwarzweissfotos meiner Eltern?» Augenblicklich presst der Griff um mein Herz gewaltiger zu. Ich kann kaum mehr atmen, ein Kloss im Hals erwürgt mich beinahe. «Habe ich unseren Kindern genug mitgegeben für ein selbstsicheres Leben? Nein!» Ausgeblutet und in Stücke zerrissen heult und schreit mein Herz verzweifelt auf. Ich halte es nicht mehr aus! Ich löse mich aus den Fängen der Vergänglichkeit. Zwei winzige Tropfen seltener Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkel und suchen sich den Weg über meine Wangen. Diese kühle, feuchte Kostbarkeit reisst mich aus meinem Trümmerfeld von Trauer und Schmerz. Es weckt meine Fähigkeit, mich geistig zu bewegen. Benommen von der Qual meines gebrochenen Herzens löse ich mich aus den schlimmsten Befürchtungen. Ich ringe nach Luft, nach Leben und Zuversicht und raffe mich auf und dränge mit der letzten Kraft dieses Erleben weg. Der Hauch vom Tod verschwindet mit dem nächsten Ausatmen, mit der Entscheidung, mich dem Lebe zuzuwenden. Ich gebe mich nicht geschlagen! Nicht jetzt.

Im Jetzt habe ich alles, was ich brauche

Mein Wille, weiterhin Mutter unserer wunderbaren Kinder zu sein, gibt mir einen neuen Schub. Ich schüttle mich und der Mantel verliert ein wenig an Gewicht. Ich atme auf, strecke meine steifen Glieder und pumpe wie beim Erwachen das Blut in meine Adern. Es zieht etwas wie Freude auf. Ein milder Sonnenaufgang verbreitet in mir Licht und Wärme. Nach diesem Abtauchen in den tiefsten und dunkelsten Abgrund meines Seins erscheint das Licht tausendfach heller in meinen Augen. Glitzernd, glänzend zeigt sich meine Welt. Auf einmal sehe ich, was noch alles zu erledigen ist, und was ich noch alles erleben möchte. Meine Sinne erwachen zum Leben und ich verrichte Dinge, die so lange liegen geblieben sind. Ich mache den Spinnwedeln in den Ecken singend den Garaus, transportiere die Wäscheberge ab und verstaue sie liebevoll in den Schränken meiner Liebsten. Dabei spüre ich eine Dankbarkeit mein Herz erweitern, ich kann noch etwas für sie tun, wie wundervoll! Ich lasse mich überreden und trete den Fussball meiner Jungen und sprinte furchtlos über den Platz vors Tor. Sie sind viel schneller als ich, und ich lache auf. Die bremsenden Warnrufe unterdrücke ich für Minuten, bis ich mich keuchend und glücklich auf die Schiri-Bank setzen muss. Klopfenden Herzens spüre ich noch die Einschnitte meiner Angst ums eigene Leben. Ich weiss keineswegs, wie lange mich der Mantel der Schwäche immer wieder auf die Reservebank schickt. Und ich ahne nicht, wann mich der Tod ein letztes Mal umhüllt. Genau darum lebe ich auf, für diesen einen Moment! Im Hier und Jetzt habe ich mein Leben und meine Lieben! Es ist, wie wenn die Sonne einen Strahl durch dichten Nebel schickt und für einen Augenblick die Erde küsst. Ein Hoffnungsschimmer und das Versprechen für helle Tage.

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