Meine Katastrophe würden die Meisten nicht einmal als solche bezeichnen. Hätte ich früher auch nicht getan. Damals, als ich noch andere Sorgen hatte.
Aber die Zeiten ändern dich. Je älter du wirst, umso kleiner wirst nicht nur du. Das Alter schrumpft dir auch ein passendes Leben zurecht. Eins, das du handeln kannst. Es gibt nur ein Problem: Wenn in diesem Schrumpfleben selbst die kleinste Sache passiert, dann ist die gleich riesengroß. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann dich umhauen wie ein Orkan.
Bevor der Orkan mich umgehauen hat, war mein Leben ein Haus mit Garten. Darin wohnte ich mit Minka, der Willensstarken mit den vier weißen Schuhen, die sie sich nie schmutzig machte. Gestern wurden die Schuhe dann doch schmutzig. Blutrot wurden sie. Ein Auto hat Minka totgefahren.
Eine Andere hat sich meinen Körper ausgeborgt, weil ich ihn nicht selbst bewegen konnte. Die Andere hat die Katze von der Straße gekratzt und sie behutsam in den Garten getragen. Steif war sie, aber ihr Fell immer noch weich.
Die Kirschen werden nächstes Jahr praller
Jetzt liegt Minka unter dem Kirschbaum. Ihr Lieblingsort – und meiner. Eigentlich. Die Kirschen werden nächstes Jahr praller, weil sie darunter liegt, denke ich, schaue ins Geäst und spüre zum ersten Mal, wie klein mein Leben ist. Wie einsam bin ich doch darin.
Mein Leben ist ein leeres Haus geworden. Vier Ecken und darin ich. Und um ehrlich zu sein: Inzwischen sind mir selbst die vier Ecken zu viel. Das ewig Wiederkehrende macht mürbe. Aufstehen. Essen machen. Abwaschen. Und dann Stille, Stille. Endlose Stille. Ich fühle mich wie eine Kirsche, in der von innen der Wurm nagt.
Um Mitternacht gehe ich zu Bett, lege mich hin und kann nicht schlafen. Also liege ich da und lausche. Langsam fürchte ich sie, diese Stille.
Mein Leben spielt denselben Tag auf Dauerschleife. Die Routinen darin sind längst bedeutungslos geworden. Jeder Handbewegung haben die Jahre den Sinn ausgewaschen. Auf ewig gleichen Pfaden trample ich mich fest. Morgens Küche, Bad, dann Wohnzimmer. Abends Küche, Bad, dann Bett. Der Rest des Hauses? Kulisse. Ich habe keine Kraft mehr für diesen Tag.
Nächsten Sommer kommen die Vögel wieder
Der Garten ist ein Friedhof, in dem ein glücklicheres Leben spukt. Ich betrete ihn nicht mehr. Während ich mein Messer schärfe, beobachte ich den Kirschbaum durchs Küchenfenster. An ihm geht die Zeit nicht spurlos vorüber. Eben ist er noch karg und im nächsten Moment hat er bereits Knospen, schon trägt er Früchte. Ich habe es geahnt: Die Kirschen sind rot wie nie. Blutrot. Sofort stürzt sich ein Schwarm Vögel auf die Kirschen und pickt, pickt. Pickt, bis nichts mehr da ist. Keine Kirschen. Keine Minka. Kein Schmerz.
Am Abend, als der Baum die Blätter verliert und die ersten Schneeflocken fallen, ertrage ich sie nicht länger, diese Stille. Ich ziehe mich zusammen, bis ich fast verschwunden bin und mache Raum. Für die Andere, die kommt, wenn etwas getan werden muss, das ich selbst nicht tun kann.
Und dann ist es Zeit, sich in Kirschen zu verwandeln. Nächsten Sommer kommen die Vögel wieder, denke ich und lächle.
RZ Nachrichten
Aus aktuellem Anlass
Um Nachahmende zu vermeiden, berichtet die RZ gewöhnlich nicht über Suizidfälle in der Region. Doch der Fall der 86-jährigen Hedwig W. hat große Betroffenheit in der Bevölkerung ausgelöst. Nachbarn hatten die alte Dame am Samstag mit aufgeschnittenen Pulsadern unter dem Kirschbaum ihres Gartens entdeckt. Aufgrund des heftigen Schneefalls der vergangenen Woche wurde die Leiche der Seniorin erst Tage nach ihrem Tod aufgefunden. Derzeit prüft die Gerichtsmedizin, ob die Frau an den sich selbst zugefügten Verletzungen oder an der Kälte in der Todesnacht gestorben ist. Ein Fremdverschulden kann ausgeschlossen werden.
Der Fall von Hedwig W. wirft ein Schlaglicht auf ein wachsendes Problem unserer Gesellschaft und ein zunehmendes Risiko im Alter: Vereinsamung.
Laut Statistischem Bundesamt wohnte im vergangenen Jahr jede dritte über 65-jährige Person allein. Bei den über 85-Jährigen waren es bereits deutlich mehr als die Hälfte. Dieser Trend ist steigend. Henriette Lorson von der psychologischen Beratungsstelle für ältere Menschen erklärt, warum so viele Personen dieser Altersgruppe allein leben: „Nicht selten sind Lebenspartnerinnen und -partner ihre einzige Gesellschaft. Stirbt die Bezugsperson, bedeutet das für den Überlebenden oft Jahre, nicht selten Jahrzehnte der Einsamkeit.“
So auch im Fall der verstorbenen Hedwig W., die laut Angaben ihrer Familie vor fünfzehn Jahren den Partner verloren und seitdem allein mit ihrer Katze in einer Doppelhaushälfte gelebt hatte. Sie habe darauf bestanden, weiter allein im Haus zu leben, rechtfertigt sich ihr jüngster Sohn.
Auch Lorson bestätigt, dass für die Meisten eine Änderung ihrer Wohnsituation keine Option sei. Sie lehnten ab, ins Altersheim oder zu Familienangehörigen zu ziehen. Ein Umzug bedeute, alles Vertraute, das selbst erschaffene Leben und die eigene Unabhängigkeit hinter sich zu lassen. Der Wunsch, so lange wie möglich selbstständig im vertrauten Umfeld zu leben, sei in dieser Generation stark ausgeprägt. Dass sich dieses Umfeld aber schnell ändere, werde dabei unterschätzt.
Im Fall von Hedwig W. seien gleichaltrige Nachbarinnen und Nachbarn nach und nach verstorben. Das tägliche Gespräch am Gartenzaun oder kleine Besuche zum nachmittäglichen Kaffee fielen weg. Zuletzt sei die Katze der Frau überfahren und die Seniorin nur noch selten außerhalb ihres Hauses gesehen worden, berichten Nachbarn.
„So gesehen sind wir alle nur eine Katastrophe davon entfernt, allein zu leben“, schließt Lorson.
Hedwig W. ist nur eine von Vielen. Die Vereinsamung im Rentenalter korreliert mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken. Diese werde im Alter aber meist nicht oder zu spät erkannt. „Im Alter äußert sich eine Depression anders als in jungen Jahren“, erklärt Lorson. Depressive junge Menschen klagten häufig über berufliche Probleme. Depressive Senioren berichteten dagegen vermehrt über gesundheitsbezogene Probleme. Das Spektrum reiche von Rückenschmerzen, über Schlafproblem bis hin zur Sorge, dement zu werden. Da alle genannten Symptome auch Alterserscheinungen sind, werden sie zu selten mit einer Depression in Verbindung gebracht. „Ärztinnen und Ärzte sollten in solchen Fällen immer auch ausdrücklich nach psychischen Symptomen einer Depression wie Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle oder Suizidgedanken fragen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine Depression als zugrundeliegende Erkrankung übersehen wird“, empfiehlt Lorson. Doch es fehle an Aufklärungsarbeit, sowohl bei den Behandelnden als bei Betroffenen und deren Angehörigen.
Dieser Umstand erklärt, weshalb das Suizidrisiko unter den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern steigt. “Etwa 35 % aller Suizide werden von Menschen über 65 Jahren verübt.” (“Online-Fortbildung zu Altersdepression – Deutsche Depressionshilfe”)
Mit diesem Beitrag möchten wir Sie auffordern, aktiv auf ältere Menschen in Ihrer Umgebung zuzugehen. Gehen Sie nicht davon aus, dass diese Menschen von irgendwem regelmäßig Besuch bekommen. Fragen Sie nach und nehmen Sie sich Zeit für kleine Gespräche. „Bereits kleine Alltagsinteraktionen tragen viel dazu bei, dass ältere Menschen sich als wertvoller und geschätzter Teil einer Gemeinschaft fühlen“, so Lorson. Lassen Sie uns gemeinsam etwas dafür tun, dass Einsamkeit und Depression nicht zur Todesursache werden!
Für Hedwig W. kommt dieser Aufruf zu spät. Die Seniorin wird am kommenden Mittwoch Kreis ihrer Familie, die aus Berlin und Amsterdam anreist, beigesetzt.