Ich sitze jetzt hier auf unserem Balkon und überlege mir, wie ich dir meine Geschichte vom Tod erzählen will. Ich fang einfach mal an.
Als meine Mama schwer an Nierenkrebs erkrankte, war das ein großer Schock für uns. Damals arbeitete ich noch in Chemnitz und mir war recht schnell klar, dass ich meinen Job kündige und wieder in die Heimat ziehe. So geschah es dann auch und ich zog 2016 wieder nach Hause und mit meinem Mann Arne zusammen. Die Zeit, die ich mit meiner Mama und meiner Familie dann noch hatte, war für mich sehr wertvoll, weil ich für sie da sein und mit ihr jeden Arztbesuch wahrnehmen konnte. Ich liebte es, meine Mama in dieser Zeit auch an unserem Leben teilhaben zu lassen und sendete Videos und Fotos von unseren Erlebnissen.
Ende 2017 machte ich mich selbstständig und gründete meine eigene Werbeagentur, während Arne und ich weiter regelmäßig meine Mama besuchten, die damals gemeinsam mit meiner Oma, ihrer Mama und meinem Papa in einem Haus in Spaichingen lebte. Für meine Oma war diese Zeit besonders schwer – ihr eigenes Kind zu sehen, wie es gegen eine tödliche Krankheit kämpft …
Bis 2018 kämpften wir gemeinsam – bis wir schließlich meine Mama verloren.
Ich erinnere mich genau an den Tag. Es war ein Freitag – morgens 10:05 Uhr. Arne und ich fuhren an diesem Tag schon früh morgens ins Krankenhaus, da wir jedes Mal 45 Minuten nach Spaichingen fahren mussten. Einen Tag bevor meine Mama starb, holten wir meinen Papa noch aus einem anderen Krankenhaus, in dem er die Nacht davor selbst verbringen musste und brachten ihn zu seiner Frau.
Wir waren alle bei Mama, bis auf meine Oma. Wir wollten sie schützen.
Ich war gerade raus aufs Klo, als Arne mir entgegen stürmte und sagte, “komm schnell”. Arnes Gesicht und diesen Moment habe ich noch im Kopf und dass mir mein Handy aus der Tasche fiel. Dann war ich wieder bei Mama im Zimmer und nur kurze Zeit später atmete sie nicht mehr. Eine Krankenschwester stellte dann nur noch den Tod fest.
So war meine erste fassbare Begegnung mit dem Tod. Ich bin noch immer sehr dankbar dafür, dass ich bei Mama war, ihre Hand halten konnte und ihr noch meine Liebe auf den letzten Weg mitgeben durfte. Um ehrlich zu sein, dachte ich immer “Mama wird wieder gesund – egal wie”.
Nachdem Mama im Krankenhaus gestorben war, hatten wir, Arne und ich den schwersten Gang unseres Lebens vor uns. Wir mussten Oma sagen, dass ihre über alles geliebte Tochter gestorben war. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass das mit Abstand das Schwerste für uns war. Wir überlegten noch, vorher die Hausärztin zu kontaktieren, ließen es aber, weil wir in unsere Stärke vertrauten, Oma auffangen zu können. Und so war es auch. Wir redeten mit Oma und weinten, nahmen uns in den Arm und zündeten eine Kerze für Mama an. Mein Papa und mein Bruder kamen dazu, als alles im Krankenhaus geregelt war.
Wir organisierten die Trauerfeier und regelten, was es sonst noch zu tun gab. Ich war zum ersten Mal in einem Leben bei einem Bestatter, was für mich eine sehr gute Erfahrung war. Ich fühlte mich verstanden und damit in den richtigen Händen aufgehoben. Die Trauerfeier war ganz besonders. Ich gebe mich meistens nicht mit 08/15 zufrieden, insbesondere wenn es um Menschen geht, die mir sehr wichtig sind – dass solltest du vielleicht noch über mich wissen ;-). Wir klebten Origami Herzen auf Mamas Sarg, die wir selbst gefaltet hatten, wie du hier in dem Bild auch sehen kannst.
Eins schaffte ich auf der Trauerfeier nicht: Eine Rede zu halten. Das hätte ich sehr gern getan, aber ich hatte Angst zu versagen und Angst vor meinen eigenen Emotionen. Das brannte sich schwer in mein Herz ein – und ließ mich bis Anfang 2020 nicht los. Unser Motto in der Trauerzeit war “Lass die Unterschrift deines Lebens die Liebe sein”. Genau dieser Spruch stand dann auch auf dem Trauerkärtchen meiner Mama.
Mit viel Liebe, Einfühlungsvermögen und Gesprächen gingen wir gemeinsam mit meiner Oma durch die Trauer und erarbeiten uns neuen Lebensmut. Bis im Januar 2020, meine Oma dann schwer stürzte und sich dabei den Oberschenkel brach. Es folgten darauf noch eine Lungenentzündung und eine Lungenembolie.
“Kommen Sie schnell ins Krankenhaus und verabschieden Sie sich von ihrer Oma”, das waren die Worte, die mir die Ärztin am Telefon sagte. In diesem Augenblick kam mir die Trauerfeier von meiner Mama wieder in den Sinn – und dass ich es nicht geschafft hatte, eine Rede zu halten. Dabei durchlebte ich erneut die Trauer und die Versagensängste. Als wir dann vor der Intensivstation standen und ich mich versuchte, darauf vorzubereiten (soweit, dass irgendwie möglich ist) mich von meiner Oma zu verabschieden, kam mir in den Sinn, egal wie das hier ausgeht – wir machen einen Film über Omas Leben. Allein dieser Gedanke beflügelte mich so sehr, dass ich wahrscheinlich auch meine Oma mit dieser Energie angesteckte und sie das Unmögliche schaffte: Sie überlebte, obwohl kein Arzt/Ärztin mehr dran geglaubt hatte.
Ich tat es aber immer.
Meine Oma Anna ist eine Kämpferin. Sie hat sich ins Leben zurückgekämpft und macht seither tolle Fortschritte.
Der Philosoph Meister Eckhart sagte einst:
Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste Mensch, der dir gerade gegenübersteht; immer ist die wichtigste Tat die Liebe”.
Und genauso genießen wir jeden Lebensmoment, den wir mit Oma und mit anderen Menschen haben dürfen. Es ist ein wahres Glücksgefühl gemeinsam mit ihr wieder lachen zu dürfen.
Omas Erinnerungsfilm ist mittlerweile auch fertig – und es ist ein Geschenk, ihre Lebensgeschichte, wann immer wir möchten, selbst anzuschauen und anderen Menschen von unserer Erinnerungsfilm-Idee zu erzählen. Mir persönlich gibt dieser Erinnerungsfilm von Oma unglaublich viel Kraft und Sicherheit, denn wenn Oma mal sterben wird, wird dieser Film auch auf Ihrer Trauerfeier laufen. Und auch wenn ich bei der Trauerfeier vorne am Pult stehe und nur die Wörter “Film ab” rausbekomme – dann spricht dieser Film schon für sich. Seither habe ich keine Versagensängste mehr.