Der Tod des eigenen Kindes zählt zu den schlimmsten und schwerwiegendsten Personenverlusten überhaupt. Und das ist – selbstverständlich – vollkommen unabhängig davon, wann das Kind gestorben ist.
Ganz gleich, ob der Verlust in der frühen Schwangerschaft, der späteren Schwangerschaft oder auch nach der Geburt geschieht: Die Welt steht nach dem Tod des eigenen Kindes eine Zeit lang still, nichts ergibt mehr einen Sinn, das Weiterleben ist erschwert oder für eine Zeit lang sogar fast aussichtslos.
Doch was, wenn das Leben eines Tages doch weiter geht? Und ist dieses Leben dann möglicherweise trotz des Verlustes – oder vielleicht sogar gerade wegen der kostbaren gemeinsamen Zeit – ein glücklicheres als zuvor?
Dieser Weg durch Trauer, Trauma und hin in ein neues und ganz anderes Leben ohne das eigene Kind – das ist möglich. Ich bin ihn bereits, wie so viele andere betroffene Eltern ebenfalls, gegangen.
Und ich kann dir sagen: Dieses Leben kann wieder schön sein – anders schön!
FACETTEN DER TRAUER
Zunächst einmal: Wie lassen sich die Tage, Wochen und manchmal auch Monate nach dem Tod des eigenen Kindes beschreiben?
Nicht wenige betroffene Eltern haben das Gefühl verrückt und von ihren Mitmenschen nicht mehr verstanden zu werden. Wie kann man sich auch rational den Tod des eigenen Kindes erklären? Allein die Tatsache, dass ein Kind vor seinen Eltern stirbt, erscheint schon derart abnormal, dass Betroffene und ihr Umfeld in eine Sprach- und Hilflosigkeit verfallen. Kopf und Körper verwaister Eltern streiken und die Emotionen sprudeln in einem wilden und widersprüchlichen Cocktail über oder verstummen ganz.
Ihre Trauer zeigt sich in Form emotionaler Symptome wie Hilflosigkeit, Traurigkeit, Verzweiflung, Wut oder auch Schuldgefühlen.
Sie zeigt sich aber auch körperlich in schmerzenden Gliedern, Kurzatmigkeit, Schlaflosigkeit, Nahrungsverweigerung oder auch Essattacken.
Und sie kann kognitiver Natur sein und etwa Denkstörungen, Wahrnehmungsveränderungen und Zwänge mit sich bringen.
Auch Suizidgedanken oder -versuche und psychische sowie psychosomatische Erkrankungen sind Betroffenen oftmals nicht fremd.
Wer sind sie jetzt ohne ihr Kind? Mutter und Vater offensichtlich nicht mehr
Neben dem Verlust ihres Kindes haben verwaiste Eltern oft noch weitere sekundäre Verluste zu betrauern. Meist wenden sich etliche Freunde und Familienmitglieder ab, es kommt eventuell zu finanziellen Schwierigkeiten, weil der Job nicht mehr ausgeführt werden kann und viele Eltern leiden an einem Identitätsverlust.
Denn: Wer sind sie jetzt ohne ihr Kind? Mutter und Vater offensichtlich nicht mehr, zumindest nicht für ihr Umfeld. Dazu fehlt das Kind an der Hand.
Ein Spießrutenlauf zwischen ihrem alten Leben, in das sie nicht mehr hineinzupassen scheinen und dem neuen, in dem sie noch längst nicht angekommen sind, beginnt.
VON DER TRAUER ZUM TRAUMA
Eine weitere mögliche Folge bei dem Verlust des eigenen Kindes ist das Trauma.
Ein Trauma entsteht immer dann, wenn es zu einem „zu viel“, „zu plötzlich“, „zu schnell“ und „zu überwältigend“ kommt.
Sein Kind zu verlieren ist schier nicht zu ertragen und betroffene Eltern verlieren oftmals den Kontakt zu sich selbst sowie zu ihren Mitmenschen, die sich aus eigener Sprach- und Hilflosigkeit heraus von ihnen abwenden.
Die Eltern stehen oftmals sehr allein und überfordert vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens
Ein Trauma äußert sich beispielsweise in Flashbacks. Verwaiste Eltern erleben dabei bestimmte Situationen aus der Vergangenheit immer wieder von Neuem, und zwar so real, als würden sie in exakt diesem Moment passieren. So müssen viele Eltern beispielsweise den Moment des Todes oder die Nachricht darüber in einer sogenannten Traumaschleife immer wieder durchleben.
Die Hilflosigkeit aufseiten der Eltern als auch ihres Umfeldes ist immens groß.
Zudem ist Betroffenen ein transformativer Trauerprozess nicht möglich, solange sie in ihrem Trauma feststecken. Trauer kann erst wirklich gelebt werden, wenn das Trauma aufgelöst wurde.
Die Eltern stehen somit oftmals sehr allein und überfordert vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens, der nun mühsam wieder geordnet und zusammengefügt werden muss.
VOM TRAUMA INS POSTTRAUMATISCHE WACHSTUM
Es fühlt sich für verwaiste Eltern – gerade in der ersten Zeit nach dem Tod ihres Kindes – nicht so an, aber: Es gibt Faktoren, die einen Einfluss auf Trauma und Trauerprozess nehmen können.
Ein wichtiger Faktor ist das Begleiten der Betroffenen.
Eltern, die diese aufreibende Lebensphase vollkommen allein für sich verarbeiten müssen, haben es deutlich schwerer als Eltern, die dabei Unterstützung bekommen.
Steht ihnen jemand zur Verfügung, der ihre Gefühle mit ihnen gemeinsam hält und aushält und ihnen unvoreingenommen und bedingungslos Gespräche über ihr Kind und das Erlebte anbietet, schafft dies einen Raum für die Bewältigung von Trauma und Trauer. Wichtige Begleiter können Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fachkräfte wie beispielsweise Trauerbegleiter sein.
Ein Wachsen in der eigenen Persönlichkeit ist das Ergebnis dieses Prozesses
Ist einige Zeit nach dem Tod ihres Kindes vergangen, haben die Eltern ihre persönlichen Bewältigungsstrategien gefunden und etabliert, ihr Trauma bearbeitet und leben ihre Trauer offen aus, verändert sich oft der Blick der Betroffenen.
Mit Abstand und aus aktueller Sicht erkennen sie nämlich, was sich zum Guten hin verändert hat und was ohne ihr Kind so niemals in ihr Leben getreten wäre.
Viele verwaiste Eltern berichten von tieferen Beziehungen durch offene und tiefgründigere Gespräche.
Auch Prioritäten werden häufig nochmal völlig anders gesetzt: Der Alltag wird bewusster und achtsamer und mit einem veränderten Gesundheitsbewusstsein gelebt, immer mit der Erkenntnis im Hinterkopf, dass das Leben endlich ist.
Ein Wachsen in der eigenen Persönlichkeit ist das Ergebnis dieses Prozesses, welcher auch posttraumatisches Wachstum genannt wird. Verwaiste Eltern haben die Chance, gestärkt aus dem Verlust ihres Kindes hervorzugehen. Und sie haben damit wiederum die Möglichkeit, ihre dabei erlangten Erkenntnisse und Strategien an andere Betroffene weiterzugeben.
Ein Kreislauf, der für verwaiste Eltern so sehr wichtig ist: Halten und gehalten werden.
Ein Erbe jedes einzelnen Sternenkindes
Der Weg durch Trauer, Trauma und hin in ein neues Leben nach dem Tod des eigenen Kindes ist lang und an vielen Tagen erscheint er nicht bestreitbar.
Dennoch gibt es Wege, um aus der Ohnmacht in die Handlung zu kommen und den Trauer- und Traumaprozess aktiv zu unterstützen.
Gelingt dieser zehrende Weg, liegt im posttraumatischen Wachstum ein großes Geschenk. Sowohl die Betroffenen, als auch andere verwaiste Eltern, mit denen die gesammelten Erfahrungen geteilt werden, profitieren von dieser Entwicklung.
Und so beobachte ich es nicht selten, dass verwaiste Eltern regelrecht über sich hinauswachsen. Sie meistern ihr eigenes Schicksal, schreiben Bücher über ihre Erkenntnisse, begleiten wiederum andere Betroffene, sorgen für Aufklärung im Bereich Kindsverlust und so vieles mehr.
Sie erschaffen Großartiges, das es ohne ihre Kinder niemals geben würde. Ein Erbe jedes einzelnen Sternenkindes!