Eine Freundin von mir ist gestern gestorben. Das ist ein ernstes Thema. Und etwas, über das auch geschrieben werden will. Also mache ich das jetzt.
Manche Menschen würden diese Freundschaft eine Bekanntschaft nennen, denn wir kannten uns erst ein paar Jahre und sahen uns aufgrund der Entfernung und unterschiedlicher Lebenssituationen nicht regelmäßig. Oft nur einmal im Jahr, wenn die Reise in die Planung passte.
Dafür telefonierten wir häufig und schrieben uns viel. Wenn wir uns trafen, waren das ausnahmslos schöne Besuche. Unsere Gastgeber, sie und ihr Mann, hießen uns stets herzlich willkommen. Mit Sack und Pack, Kind, Hund und Kegel, oder exklusiv beim Pärchenabend. Es wurde gelacht, geredet, gespielt. Regionale Getränke gingen nie aus und für die Verköstigung wurde mehr als gesorgt. Ich sehe den Tisch bildlich vor mir. Spielkarten liegen neben Holzbrettchen mit Käse und Schwarzwälder Schinken. Aufmerksam kümmern sich unsere Gastgeber um die Versorgung der Freunde. Es darf uns an nichts fehlen. Liebevoll und aufmerksam lauscht der Mann den Ausführungen seiner Frau und streicht ihr gelegentlich über Hand und Arm. Die Wohnung ist geräumig, die offene Küche etwas enger, da hier der Tisch und die Stühle stehen. Wie meistens ist es der gemütlichste Ort der Wohnung, den wir maximal verlassen, um die herrliche Aussicht vom Balkon zu genießen.
Bei unseren Besuchen quartierten wir uns stets in Pensionen oder Hotels ein, um unseren Gastgebern nicht zur Last zu fallen und die übrige Zeit separat zu gestalten. Denn unsere Freundin war um die achtzig, ihr Mann ebenfalls.
Meine Freundin ist tot.
Kurz vorher starb ihre Tochter, dann erlag sie selbst dem Krebs. Ein verwobenes Schicksal und ich hoffe, die zu Lebzeiten zerstrittenen Frauen finden nun zueinander und erkennen, wie unwichtig das ganze Gezänk war.
Meine Freundin war alles andere als perfekt, doch das finde ich nicht einer besonderen Erwähnung wert. Denn erstens ist niemand vollkommen und zweitens beurteile ich Menschen danach, wie ich sie erlebe. Sofern ich sie überhaupt beurteile. Die Krankheit, diese raumgreifende Seuche, verschaffte meiner Freundin viele dunkle Wochen und Monate. Es gab unvermeidbare Augenblicke, in denen sie in ihrem Schmerz und ihrer schwindenden Orientierung vollkommen allein war.
Krebs ist grausam.
Ihr Tod soll eine Erlösung gewesen sein und ich verstehe, was damit gemeint ist. Meine Freundin ist nicht mehr hier und ich frage mich, wo sie jetzt ist. Ihr Mann rief unter ihrer Handynummer an, beim Klingeln erschien ihr Name auf dem Display. Ihre Stimme werde ich nie mehr hören.
Die Familie wünscht eine Bestattung im engsten Kreis, da gehören wir nicht zu. Und das ist ok so. Wie jedoch verabschiede ich mich von ihr? Meine Ansichten zu Körper, Seele, Leben, Tod, Vergänglichkeit, bleiben stets etwas vage. Zu viele Widersprüche verspüre ich als ehemalige Katholikin und glaubenstechnisch nie wirklich neu Beheimatete. Nun jedoch spüre ich wieder einmal deutlich: Da ist noch mehr.
Mann, Hund und ich wandern lange durch den Schnee und sprechen. Wir einigen uns darauf, dass die Seelen von Verstorbenen mitten in unseren Herzen existieren, wenn wir an sie denken. In der Siechenkapelle, eine Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts für an Lepra erkrankte Menschen errichtete Kapelle, zünden wir eine Kerze an. Während ich schweigend die helle, kleine Flamme betrachte, spüre ich plötzlich ganz deutlich:
Sie ist genau hier. In meinem Herzen.