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Es war kurz vor Weihnachten im Jahr 2011, als meine Mutter mir vermittelte, dass sie sterben würde. Sie nutzte nicht den Ausdruck Sterben, auch nicht den Begriff Tod. Sie versuchte, es irgendwie zu umschreiben und es mir dennoch begreiflich zu machen.

Doch ich wollte es nicht begreifen. Ich war 18, hatte gerade mein Abi in der Tasche und wollte für einige Monate ins Ausland gehen.

Ein Weihnachten ohne Mama? Ein Leben ohne sie?

Das lag weit außerhalb meiner Vorstellungskraft. Das würde nicht passieren. Das ging einfach nicht.

Ein Kind brauchte doch seine Mutter. Ich brauchte sie.

Und ich war mir sicher, sie würde nicht von uns gehen. Irgendwie würde sich das Ganze auflösen. Ein Irrtum. Ein medizinisches Wunder. Neue Therapiemöglichkeiten. Irgendwas.

Doch dieses Irgendwas trat nicht ein. Nicht mal ein halbes Jahr später war sie tot. Weihnachten 2012 verbrachten mein Vater, mein Bruder und ich ohne Mama.

ICH WOLLTE ES NICHT WAHRHABEN

Wenn ich heute an damals zurückdenke, wird mir klar, dass ich es einfach nicht wahrhaben wollte, es womöglich sogar verdrängte.

So lebte ich trotz des Krankheitszustandes meiner Mutter mein Leben weiter und ging ins Ausland. Sie hielt mich nicht auf, sie wäre niemals auf die Idee gekommen, mir diese Erfahrung zu nehmen.

Dennoch bekam ich mit, dass es ihr immer schlechter ging und als wir einmal miteinander skypten, fragte ich sie, ob ich nach Hause kommen sollte.

Ich werde ihre Antwort wohl nie vergessen: Sie sagte, sie würde durchhalten, bis ich zurück sei.

Ich vertraute nicht nur auf ihre Worte, nein, für mich stand weiterhin außer Frage, dass sie doch eh irgendwie die Kurve kriegen würde.

Aber das tat sie nicht.

Einen Monat bevor ich planmäßig zurück nach Deutschland kommen sollte, verstarb sie.

ICH HATTE NIEMANDEN

Ich flog zurück, wir beerdigten sie und wir kümmerten uns um ihren Nachlass. Ich kann mich kaum dran erinnern, wie ich mich damals gefühlt hatte.

Ich kann mich nur daran erinnern, was nicht da gewesen war:

Jemand, der mit mir redete; jemand, der mich fragte, wie es mir ging; jemand, der mich fragte, ob ich Hilfe benötigte.

Ich war damit allein und ich war nicht in der Lage, selbst diesen Jemanden zu suchen. In meiner Familie wurde nicht darüber geredet, darüber – die schreckliche Krankheit, den Tod.

Also tat ich es auch nicht. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wie.

ICH MUSSTE ERWACHSEN WERDEN

Stattdessen ging das Leben seinen Gang – ohne Mama.

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Ich versuchte, meinem Vater die Rolle meiner Mutter zuzuordnen. Alles, was ich ihr erzählt hätte, erzählte ich ihm. Alles, was ich üblicherweise von ihr erwarten konnte, erwartete ich von ihm.

Doch er konnte die Lücke, die sie hinterließ, nicht auffüllen.

Als ich etwa ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter zum Studieren fortzog, fragte ich meinen Vater um Rat. Seine Antwort lautete: „Tja, Kind, das musst du selber wissen, du bist jetzt erwachsen.“

Erwachsen. Ich war gerade 19 geworden und von zuhause weggezogen. Für mich begann ein neuer Lebensabschnitt. Es war die erste lebensverändernde Erfahrung, die ich ohne meine Mutter erleben musste. Dabei hätte ich sie so sehr gebraucht. Denn ich fühlte mich alles andere als erwachsen.

Ich war ein Kind, das seine Eltern brauchte. Aber ich war ein Kind, das gerade das eine Elternteil verloren hatte, und vom anderen als volljährig und damit erwachsen deklariert wurde – oder übersetzt, nicht mehr auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen sein durfte.

DA WAR IMMER DER GEDANKE AN SIE

Ich habe es schnell kapiert. Ich fühlte mich zwar noch nicht erwachsen, aber ich musste es werden und mich irgendwie selbst durchschlagen. Und das tat ich.

Ich absolvierte mein Studium, fing an zu arbeiten, ich heiratete, kaufte ein Haus, bekam mein erstes Kind.

Während all dieser Abschnitte war und ist da immer wieder der Gedanke an meine Mutter.

Was würde sie dazu sagen? Wie würde sie mir raten? Wäre sie stolz auf mich? Was wäre, wenn sie jetzt noch bei mir wäre?

Es ist nicht so, dass ich täglich an sie denke. Es ist auch nicht so, dass ich jedes Mal weine, wenn ich es doch tue.

Und dennoch ist da inzwischen dieses Gefühl, etwas verpasst zu haben.

ICH HABE ETWAS VERPASST

Vor einiger Zeit habe ich begonnen, einen Traum von mir zu verwirklichen: Einen eigenen Roman schreiben.

Sehr schnell hatte ich die grobe Handlung im Kopf – Es sollte um eine junge Frau gehen, deren Mutter an Brustkrebs erkrankt und schließlich verstirbt.

Mit dieser Romanidee begann meine Trauerreise.

Ich las andere Romane über Krebspatienten; über solche, die es nicht schafften. Ich fand heraus, dass es sowas wie Sterbeammen gibt oder Trauerworkshops.

Und ich fand andere Menschen, die geliebte Personen verloren hatten, und öffentlich über ihre Trauer auf sozialen Medien berichten.

Es gibt Menschen, die über den Tod und ihre Trauer reden.

Ich war baff und irgendwie auch beeindruckt.

Ich wollte mich mit ihnen austauschen, doch ich zögerte, sie anzuschreiben. Inzwischen ist meine Mutter über zehn Jahre tot. Habe ich überhaupt das Recht, neben jemanden zu trauern, dessen Mutter erst vor ein paar Monaten verstarb?

Ich fand einen Beitrag einer anderen Trauernden. Die Headline lautete in etwa so: Trauer ist ein „Fürimmerdings“.

Da wurde mir klar, dass ich sehr wohl das Recht hatte, auch heute noch zu trauern.

TRAUER IST EIN FÜRIMMERDING

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gottardi unsplash

Wenn ich damals mein Wissen von heute gehabt hätte, hätte ich so einiges anders gemacht.

Ich hätte mit meiner Mutter geredet, über ihre Krankheit und den Tod. Ich hätte mich besser darauf vorbereitet und sie auf ihren Weg begleitet.

Und danach hätte ich mir Hilfe geholt oder Gleichgesinnte gesucht, um über den Verlust zu reden und die Trauer herauszulassen.

Aber ich kann nicht rückgängig machen, wie es vor zehn Jahren gelaufen ist.

Ich kann nicht mehr mit meiner Mutter reden, ich kann sie auch nicht mehr auf ihrem letzten Weg begleiten.

Aber ich kann jetzt was tun. Ich schreibe darüber und tausche mich mit anderen Trauernden aus.

Denn Trauer kennt kein Verfallsdatum – es ist ein „Fürimmerding“.

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