Die Ressource Musik bis zum Lebensende – Ein Nachruf für meine Mutter
Dieser Sommertag im Jahr 2022, ist wirklich ein sehr heißer.
Die Treppenstufen zum Zimmer werden bei jedem Schritt beschwerlicher. Aber nicht die brütende schwüle Hitze draußen zieht mir jede Kraft aus dem Körper, sondern die unausweichliche Tatsache, dass dies das letzte Zuhause meiner Mutter sein wird.
Die Tür zu ihrem Zimmer ist halb offen und beim Eintreten treffe ich auf sie, eine sehr kleine und zerbrechliche dünne Frau. In ihren Augen sehe ich eine tiefe Traurigkeit, die nicht über ihre Lippen kommt. Ihr Körper wirkt trostlos und sie verschwindet fast in ihrem Rollstuhl.
Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen und in mir wächst der Gedanke, dass sie lieber verschwinden möchte, um sich selbst und andere nicht mehr sehen zu müssen.
Ihre Geste stimmt mich sehr nachdenklich und zugleich überkommt mich eine schwere Traurigkeit.
Das ist die Frau, die zeit ihres Lebens immer einen Handspiegel zur Hand haben musste, um ihr Aussehen kontrollieren zu können. Eine selbstbestimmte und selbstständig lebende Frau, fast schon eine Diva. Ihr stark ausgeprägter Sinn für Ästhetik und ihre Liebe zu den musischen Künsten prägten ihren Lebensstil.
Das Radio spielt klassische Musik.
Die Musik war ihr Lebenselixier, ihre Kraftquelle, die ihr in allen Lebenslagen half, auch sie selbst zu sein. Sie liebte die Dramen in der Oper, denn die ließen sie ihre persönlichen Dramen vergessen. Daneben die Literatur, die manches Mal wichtiger schien als das tägliche Brot. Zu ihrem Wertekanon gehörte Bildung, Ästhetik und Kultur, dass sie als die Grundlage menschlichen Daseins betrachtete und sehr stark in unsere Erziehung floss, was meine Geschwister und mich sehr prägte.
Der zunehmende Verlust ihrer Autonomie und der Kontrollverlust über sich und ihr Leben macht ihr sehr schwer zu schaffen. Sie muss sich, wie auf einer Rolltreppe im Schnellgang, auf dem Weg in die Tiefe fühlen.
Die Auflösung ihrer kleinen Wohnung war für mich ein Abschied auf Raten. Unzählige Gegenstände, Briefe und viele Fotos, die ihre ganze Lebensgeschichte erzählten, glitten mehrmals durch meine Hände und alle hatten eine andere Erinnerung parat.
In mir tauchten die Fragen auf: „Was, zählt am Ende eines Lebens und woran, möchte ich mich erinnern?“. Der Begriff des Loslassens bekam eine ganz neue Bedeutung. Was sollte ich einfach wegwerfen und was aufheben, um Erinnerungen zu sammeln?
Mir wurde dabei sehr bewusst, dass sich Erinnerungen nicht entsorgen lassen.
—
Meiner Mutter war ihr Abschied vom Leben bewusst und ich konnte ihr Woche für Woche, Tag für Tag zusehen, wie sie immer schwächer wurde und sich dabei ihrem Schicksal stellte. Bis zuletzt hielt sie an ihren Ritualen fest. Die Tageszeitung, die sie mit schwacher Hand noch auf ihr Bett zog oder ihr Notizzettel, auf dem sie mit zittriger Hand wichtige Dinge notierte. Am Ende eines Lebens treten immer die Ur-Grundbedürfnisse eines Menschen wieder in den Vordergrund. Auch meine Mutter brauchte Zuwendung, Nähe, Annahme, Schutz und Versorgung. Damit schloss sich der natürliche Kreis des Lebens.
—
An einem Mittwoch in einer stillen Nacht verließ sie die Bühne dieses Lebens für immer und ihr bewegtes Leben fand ein Ende.
Die Trauerfeier war feierlich und sehr berührend. Der Pfarrer fand die richtigen Worte und konnte das Leben meiner Mutter wunderbar beschreiben und würdigen. Ihre geliebte klassische Musik war der tragende Teil, der alles miteinander verband.
Es dauerte einige Zeit, bis ich die Liebe meiner Mutter zu ihrer Musik als das erkannte und verstand, was sie für sie war. Eine enorme Ressource. Die Musik war nicht nur ihre Leidenschaft, sondern ein wichtiger Anker in ihrem Leben. Sie war ihre Retterin und gab ihr immer wieder Trost, auch in extrem schwierigen Lebensphasen.
Möge sie die Musik ewiglich in sich hören.