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Egon Tschirch Hohelied Studie G high resolution min scaled

Und sie dreht sich noch,

denke ich erstaunt, als ich den Tänzern zuschaue, die das hohe Lied Salomons darstellen. Seit dem Tod eines Freundes vor nicht allzu langer Zeit, war ich wie erstarrt, eingeschlossen in einem Kokon. Für mich war die Welt stehen geblieben, aber etwas an dieser Darstellung ließ mich wieder spüren, dass sie sich noch dreht…

Es geht um die Liebe: die unwiderstehliche Anziehung zwischen zwei Menschen, getanzt in wundervollen Bildern. Ich lasse mich hineinfallen in diese Sehnsucht nach Vereinigung und spüre gleichzeitig meine Zweifel.

Und siehe da: der Tanz verändert sich. Nun geht es um Zweifel, um Macht und Unterwerfung. Die Liebenden tanzen aufeinander zu, um bei der ersten Berührung wieder auseinander zu driften. Immer noch die tiefe Liebe auf ihren Gesichtern und die Arme sehnsuchtsvoll einander zugewandt, während der Körper und die Füße bereits auf Distanz gehen.  Bald können sie sich nicht mehr sehen, aber sie hören sich noch in ihren Herzen und sie spüren den nahen Verlust.

Trauer ergreift ihre Körper: kraftlos lassen sie ihre Köpfe sinken, ihre Statur wird klein, kleiner und in sich gekehrter. Sie schlingen ihre Arme um sich selbst, um sich zu fühlen, weil sie den anderen nicht mehr fühlen können. Wie zwei einsame Planeten ziehen sie auf der Bühne ihre Kreise, jeder auf seiner Umlaufbahn, nichts gemeinsames mehr ….

Von Egon Tschirch CC BY SA 3.0 de
Von Egon Tschirch, CC BY-SA 3.0 de, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=81437582

Ein dritter Tänzer kommt hinzu. Stolz mit geraden Schultern schreitet er über die Bühne. Seine Haltung strahlt Aggressivität aus. Hoch erhobenen Hauptes schneidet er die Bahnen der einsam Kreisenden. Sie spüren die Gefahr, die von dem dritten ausgeht, aber es scheint auch ein gewisser Reiz darin zu liegen. Beide verändern ihren Tanz. Ihre Bewegungen werden fließend, weich – fast zärtlich. Sie umgarnen und umwerben ihn – den stolzen Dritten. Er erst abweisend, dann doch interessiert wie ein Herrscher an seinen Gefangenen. Er will sie beherrschen, demütigen. Er reißt  an ihnen, zerrt an ihnen und schließlich nimmt er sich einen der zwei mit Gewalt…

Zerbrochen, zerstört liegt sie da! Der stolze Dritte bereits abgegangen, ohne sich  umzuschauen. Er hat bekommen, was er wollte. Er hat nicht nach Liebe gesucht. Er wollte nur „Selbstbestätigung“.  Die Liebende aber kriecht mit ausgestreckter Hand über den Boden Der Schmerz, der sich in ihren abgehackten Bewegungen spiegelt, verändert sich. Die Bewegungen werden wieder weicher, zärtlicher und die starre Maske des Leids scheint zu bröckeln. Hoffnung liegt nun auf ihrem Gesicht. Langsam richtet sie sich auf, sitzend streckt sie ihre Arme nach dem anderen aus. Auch dieser war zwischenzeitlich erstarrt. Zerbrochen am Geschehenen, am Gesehenen. Doch nun, als er begreift, dass die Liebende  ihm mit Hoffnung begegnet, glaubt auch er wieder an die Kraft der Liebe .

Eine erste vorsichtige Bewegung, die noch etwas steif wirkt.  Dann – ein kleiner Schritt auf die Liebende zu. Sie richtet sich weiter auf, streckt ihm ihr Gesicht und die Hände entgegen. Er braucht sie nur zu ergreifen. Langsam, ganz langsam, aber mit all der Liebe, die er in sich trägt, nimmt er ihre Hände, zieht sie zu sich herauf, umarmt sie. Sie schmiegt sich vertrauensvoll in diese Umarmung. Zögerlich wenden sie sich aneinander zu, schürzen die Lippen und küssen sich zärtlich, ganz zärtlich – ohne Verlangen, aber im tiefen Glauben an ihre Liebe. Und dann tanzen sie gemeinsam, eng umschlungen, fast zu einem Körper verschmolzen von der Bühne  …

Ich erwache aus meinem Wegsein, spüre im Inneren nach wie intensiv und wie vielfältig meine Gefühle während dieser Vorstellung waren. Ich bin tiefst im Innere berührt, würde gerne einfach noch sitzen bleiben und spüren … aber das Licht geht an, meine Sitznachbarn wollen den Saal verlassen und ich muss mich dem Gedanken stellen, dass sie sich dreht – die kleine, blaue Kugel namens Welt.

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