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Soporia ist ein seltsamer Ort. Ein Zwischenreich, so nah und doch so fern, vertraut und fremd zugleich. Erschaffen aus den Erinnerungen der Lebenden, der Liebenden, verlieren sich hier alle Gegensätze. Soporias Gäste wandeln durch Traumwelten und lauschen Stimmen aus einer anderen Sphäre. Das Reich lädt sie zum Verweilen ein, doch es ist eine Täuschung. Seine Gäste sind Gefangene, weder hier noch da. Sie schweben zwischen Vergangenheit und Ewigkeit, zwischen den Erinnerungen, die verblassen, und den Stimmen, die verklingen. Soporia ist ein gefährlicher Ort.

Teil 1: Susan

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich durch diesen Korridor gegangen bin. Er führt zu dem Foyer mit den geometrischen Formen auf dem Dielenboden: Dreiecke, Vierecke und Kreise, in Schwarz und Weiß und diesem knalligen Rot. Auch die Wände schimmern rot. Sie ziehen sich schier endlos nach oben, wo sie in der Dunkelheit verschwinden. Vom Foyer gehen mehrere Flure ab. Der Hauptflur leitet auf der einen Seite zur Ausgangstür, auf der anderen zu einer Wendeltreppe, die sich bis auf den Dachkorridor hinaufwindet. Ich habe schon zigmal die Stufen und meine Schritte gezählt, um mir ein Bild von den Gebäudeausmaßen zu machen. Leider schwanken die Zahlen derart, dass ich keine zuverlässige Aussage treffen kann.

Eines weiß ich aber sicher: Es wird Zeit, dieses Anwesen zu verlassen. Seit einer Weile beobachte ich, wie sich die Räume verändern. Die schwankenden Messungen waren ein erster Hinweis, doch damit nicht genug: Die Farben der Böden und Wände verblassen von Tag zu Tag – sofern Tage überhaupt das richtige Zeitmaß sind. Wenn das so weitergeht, wird bald alles wegradiert sein. Vorher werde ich weg sein, das ist mein fester Entschluss! Er ist die einzige Gewissheit, die es für mich noch gibt.

Du weißt, dass ich stets analytisch an Probleme herangehe. Oft hat dich das an mir gestört, weil du ein hoffnungsloser Romantiker bist. Aber an diesem Ort, an dem ich dich vergeblich gesucht habe, bleibt mir nichts anderes übrig. Wenn ich mich allen Umständen zum Trotz auf die Fakten besinne, dann komme ich zu folgender These: Ich befinde mich in einem imaginären Abbild unseres Flitterwochenhotels in Rom. Die Flure hatten ähnliche Muster. Ebenso erkenne ich den Muff der alten Holzdielen wieder. Was hingegen meinen Zustand in der Imagination betrifft, kann ich nur vage mutmaßen. Wie soll ich auch objektiv urteilen, wenn ich Teil der Beobachtung bin und sich alles in Relationen verliert? Wild geraten, würde ich darauf tippen, dass ich mich in einem luziden Traum befinde. Ein Klartraum hätte immerhin den Vorteil, dass ich mit meinen Entscheidungen etwas bewirken kann. Dass ich aufwachen kann.

Ich stelle mich in die Mitte des Foyers. Die Bodenmuster sind nochmals blasser geworden: das Rot ein Rosa, das Schwarz ein Grau, das Weiß schon Leere. Ich muss aufpassen, nicht hineinzufallen. Über mir hängt unverändert die Dunkelheit. Manchmal habe ich von dort deine Stimme vernommen, fast so, als wärst du noch nicht von mir gegangen. „Sus“, hast du geflüstert, kaum wahrnehmbar, nur ein sterbender Windhauch. Aber ich habe dich gehört, und ich habe sofort gewusst, dass du es bist. Nur du hast mich Sus genannt, hast es mir gern ins Ohr geflüstert, besonders vor dem Sex. Nun bist du Äonen entfernt, und doch fühle ich noch immer das Kribbeln, wenn ich an dich denke.

„Dario!“, rufe ich ein letztes Mal nach oben, ein Kontrast zu deinem zarten Flüstern. Allerdings habe ich keine Hoffnung mehr, dass du mich hörst. Durch alle Korridore habe ich deinen Namen gerufen. „Dario!“ hier, „Dario!“ da. Kein Dario. Du bist weg, und ich bleibe ungehört. Das ist mittlerweile eine wissenschaftliche Tatsache, ebenso wie der Umstand, dass ich dich mehr als alles andere vermisse.

Auf dem Hauptflur gehe ich in Richtung Ausgang. Sollte meine Klartraum-These stimmen, dann müsste ich den Entschluss fassen können, das Hotel zu verlassen. Der Wechsel nach draußen würde symbolisch für mein Bewusstwerden stehen, sodass ich ihn als Technik nutzen könnte, um zu erwachen. Ich starte mit der empirischen Überprüfung, rüttle am Eisenknauf und ziehe an der Holztür: Nichts tut sich, wie schon bei den letzten Versuchen. Verflucht! Noch einmal gebe ich mein Bestes, zerre am Knauf, presse mich gegen die Tür, nehme Anlauf und ramme mit voller Breitseite dagegen. Schmerz überkommt mich, was logisch ist, aber viel intensiver, als er sein sollte. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, von der Tür zerquetscht zu werden. Dazu höre ich ein tiefes, durchdringendes Geräusch, wie ein Schiffshorn. Der Alarm? Offensichtlich will dieser Ort nicht, dass ich gehe.

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viaanima/Soporia

Es gibt noch einen anderen Weg. Am Ende des Dachkorridors stand ich schon einige Male davor: eine schwarze Pforte mit aufgemalter blauer Blume – kitschig und düster in einem. Neugierig, wie ich bin, habe ich die Tür auf jedem meiner Streifzüge einen Spalt aufgeschoben und hindurchgesehen. Sie ist immer offen, so viel steht fest. Dahinter wird alles tiefschwarz. Weiter habe ich mich nicht getraut, auch weil ich mir sicher bin, dass die Finsternis nicht mehr zum Anwesen gehört. Sie wirkt grenzenlos. Aber heute gibt es kein Zurück. Ich werde diesen Ort verlassen, und wer weiß, vielleicht treffe ich dich hinter der Tür ja wieder.

Das Hotel hast du damals ausgesucht, wegen seiner Traumlage an der pittoresken Piazza und des märchenhaften Flairs. „Hier ist überall Magie“, hast du geschwärmt, während ich die Architektur etwas gewollt fand. Manchmal frage ich mich, warum du Poet überhaupt eine Medizinerin wie mich geheiratet hast. Weil für dich alles Schicksal ist? Weil sich Gegensätze anziehen? Mag sein, auch wenn die moderne Paartheorie davon ausgeht, dass stabile Beziehungen eher auf Ähnlichkeit basieren. Um solche Statistiken hast du dich nie geschert. Ich auch nicht, um ehrlich zu sein, schon gar nicht jetzt, wo die ganze Welt instabil wird.

Ich drehe mich um und laufe wieder über die fahlen Formen des Foyers. Schnurstracks gehe ich weiter zum Treppenhaus, wo ich beginne, mich nach oben zu winden. Wie viele Stufen es wohl heute sind? Egal, ich werde sie nicht mehr zählen. Ich lasse mich einfach von der Spirale führen, immer dicht an den Wänden, die hier noch einigermaßen rot schimmern – rot wie die Liebe, das Blut und die Leidenschaft. Etwas von alledem ist noch hier, das spüre ich. Beschwingt drehe ich mich im Kreis, während im Hintergrund leise das Lied „Mad About You“ erklingt, wie bei unserer ersten Fahrt in meinem Auto. Gefällt mir! Die Band Hooverphonic haben wir doch sogar live erlebt, auf unserer Belgienreise. Weißt du noch?

Manchmal frage ich mich, warum ich einen Träumer wie dich geheiratet habe. Nicht einmal bei den Trausprüchen waren wir uns einig. Das obligatorische „Bis dass der Tod euch scheidet“ wolltest du nicht akzeptieren. „Ich will auch nach dem Tod mit dir verbunden bleiben!“, hast du bockig eingefordert und damit meinen verborgenen Atheismus heraufbeschworen. Der Streit hätte uns fast zerrissen, wäre da nicht etwas gewesen. Ich kann es nicht definieren, aber es ist das, was uns von Anfang an verbunden hat, eine Kraft oder Dynamik. Zusammen waren wir nicht nur zwei Teile, sondern ein geschlossener Kreis. Auch wenn ich es nie zugegeben habe: Du hast Magie in mein Leben gebracht.

Oben angekommen, wechselt die Beleuchtung ins Blaue. Ich trete auf knarzende Dielen und schreite durch den Korridor, bis ich die schwarze Tür erreiche. Es genügt schon, sie ein Stück nach hinten zu drücken, um durch den Spalt zu passen. Dahinter wird alles finster, wie gehabt. Grenzenlos wie das All. Die strukturlose Schwärze scheint die letzte Konstante zu sein, die es gibt. Mir kommt es vor, als würden sich darin unendlich viele Möglichkeiten tummeln, noch bevor sie in Licht und Zeit hineinfallen, um zu Wirklichkeiten zu werden.

Ich habe Angst, aber ich gehe weiter. Gleich werde ich mich mit den Möglichkeiten tummeln. Das Anwesen, das hinter mir im Nichts verschwindet, ist nur eine jener Optionen. Eine andere bist du. Ich wette, die Blume an der Tür stammt von dir. Danke dafür. Danke für alles, mein Dario. Ich liebe dich.

Teil 2: Dario

Sus … Sus. Du kannst mich hören, das weiß ich. Sus. Egal, was deine Kollegschaft da draußen sagt. Ich weiß es! Du brauchst mir auch nicht zu antworten. Ich will nur in deiner Nähe sein, solange es geht. Heute bleibe ich die ganze Nacht. Es tut gut, deine Hand zu halten. Am liebsten würde ich mich zu dir legen, doch da sind diese Schläuche und meine Befürchtung, etwas kaputtzumachen. Also bleibe ich sitzen und kommentiere wieder einmal alles, was ich tue. Jetzt sehe ich dich an: deine runde Stirn, deine leicht nach unten gebogene Nase und deinen Mund, der mich unzählige Male angelächelt und geküsst hat. Er lächelt nicht mehr.

Ich habe einen Strauß Lilien neben das Bett gestellt. Damit bekommt das sterile Zimmer wenigstens ein bisschen Flair. Eigentlich ist es ja dein Revier: dein Arbeitsplatz, für den du dich aufgeopfert hast, oft mehr als für mich. Aber das ist in Ordnung. Die Leute in diesen Zimmern hatten größere Probleme, und du wolltest für alle da sein. Alles hat seine Richtigkeit, das ist mein fester Entschluss!

Über deinen Zustand habe ich viel gelesen, um ihn zumindest ansatzweise zu verstehen. Du hättest ihn mir im Schlaf erklärt, doch das ist schon der springende Punkt: Du schläfst nicht bloß. Der lateinische Begriff „sopor“ bedeutet „tiefer Schlaf“. Bei deiner Bewusstseinsstörung können lediglich starke Schmerzreize Reaktionen hervorrufen. Das will ich dir ersparen, wenngleich ich darüber nachgedacht habe. Der Schmerz würde dich aber nicht wecken, sonst hätten die Ärzte das längst versucht. Nein, ich streichle dich einfach, wie in diesem Moment über dein Haar. Dabei frage ich mich, wie es jetzt in dir aussieht, was du denkst und fühlst.

Ein anderer Begriff für deinen Zustand ist Präkoma, also die Vorstufe zur völligen Bewusstlosigkeit. Ich will ehrlich zu dir sein, denn das hättest du von mir gewollt: Die Oberärztin rechnet damit, dass die nächste Stufe sehr bald eintreten wird. Mehr noch: Sie geht davon aus, dass … dass … ach, Susan … sie sagt, dass die Verletzungen zu schwer sind. Die Gedanken daran machen mich unfassbar müde. Wieder und wieder stelle ich mir vor, wie du die Fahrt wahrgenommen haben musst: die nasse Straße, den gottverdammten Laster, eventuell noch einen kurzen Blick zum Fahrer, der angeblich panisch gehupt hat. Den Aufprall.

Du bist immer gern gefahren, schon bei unserem ersten Date, als „Mad About You“ im Radio lief. Nur in Rom war selbst dir der Verkehr zu wild, da haben wir alles zu Fuß oder mit der Tram gemacht. Weißt du noch?

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viaanima/Soporia

Sei mir bitte nicht böse, wenn ich nicht weine. Das habe ich schon vorhin getan, und die Nacht ist noch lang. Ich will die Minuten mit dir auskosten, die unendlich wertvoll geworden sind. Ich will so tun, als ob sie Jahre wären. Wer weiß schon, was das richtige Zeitmaß ist! Aus kosmischer Sicht währen unsere Leben nicht länger als einen Wimpernschlag. Die gemeinsame Zeit im Licht ist immer viel zu kurz. Zwei Menschen lernen sich kennen, kommen sich näher, werden eins, werden alt, werden getrennt. Ich bin dagegen, das weißt du, aber ich habe ja andererseits beschlossen, dass alles seine Richtigkeit hat. Heute kämpfe ich nicht, denn es würde mich davon abhalten, bei dir zu sein. Heute soll jeder Wimpernschlag eine Ewigkeit sein.

Was ich tun werde, wenn du gegangen bist, kann ich dir nicht versprechen. Vielleicht verweile ich weiter in einer Welt, die mir zunehmend fremd wird, surreal und farblos. Vielleicht folge ich dir. Oder ich wage einen Neuanfang, mit neuer Farbpalette. Alles ist offen, noch immer voller Möglichkeiten, für uns beide.

Ich habe dir wieder ein Fotoalbum mitgebracht, diesmal von unseren Flitterwochen. Lass es uns noch einmal ansehen.

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