Bild zu Kolumne Alexandra Kossowski Oma

Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal die Trauerwoche organisiert, eine Aktionswoche für Trauernde, die zum gemeinsamen Essen, Kochen und Erinnern einlud. In über 20 Städten fanden Events für Trauernde statt, sowie auch online. 

In der Vorbereitung zur Trauerwoche war eine online Eröffnung geplant und meine „Co-Eröffnerin“ Lilli schlug vor, dass ich ein bisschen von meiner eigenen Trauerhistorie erzähle. Wir könnten im virtuellen Raum Bilder meines verstorbenen Vaters und meiner verstorbenen Oma aufhängen. 

Mir fiel dabei auf, dass ich kaum Bilder meiner Oma habe. Entweder ganz alte schwarz-weiß Fotos oder eines ihrer letzten, das mir aber ganz und gar fremd erscheint.  
Ich wollte eines aus meiner Kindheit mit ihr. Denn das war Oma für mich. 

Garten, Marmelade und selbstgenähte Kleider 

Oma, das ist für mich immer noch der Schrebergarten (den es mittlerweile nicht mehr gibt), ihre selbstgekochte Marmelade und ihre selbstgenähten Kleider.  
Oma wurschtelte entweder in Kittelschürze in der Küche oder grub im Garten irgendwas um, wenn sie nicht frisch geerntetes verwertete. Es gab immer was zu tun.  
Früher war das immer viel spannende Beschäftigung, aber ich erinnere mich auch, dass es dann später zu lästigen Aufgaben wurde, die ich selbst in den Schulferien noch erledigen sollte.  
Hier gerieten wir beiden Sturköpfe gerne schnell aneinander. 

Oma nähte für uns alle, manchmal zum Karneval, aber auch mein Abiball-Kleid. Oma nähte um und ab und konnte aus langen Stoffbahnen perfekt sitzende Kleider machen. Mal in lang für besondere Familienfeiern und im Anschluss wurden die Kleider gekürzt für das nächste Frühjahr. Und immer zofften wir uns, weil sie es komplett perfekt haben musste und ich es leid war stundenlang still stehen zu müssen, um beim Abstecken nicht mit der Nadel gepiekt zu werden. 

Trauer darf ambivalent sein 

Oma war aber auch die Frau, die ihr Zuhause zweimal verlassen musste. Zuerst auf der Flucht in den 40ern und dann 1953, als mein Opa eine Stelle 400 km entfernt in NRW aufnahm und meine Oma mit meinem Vater mit musste. Ihre Familie blieb in Niedersachsen zurück, wo sie damals nach der Flucht untergekommen waren und bis heute leben. 
Oma durfte den Führerschein nicht machen und arbeitete kaum in Anstellung, war meistens im traditionellen Sinne Hausfrau. Sie hielt alles und alle zusammen. Oma musste damals heiraten, weil sie schwanger war. Ich habe mich oft gefragt, ob sie überhaupt in meinen Opa verliebt gewesen war.  

Oma war auch die, die mir sagte, ich werde zu dick, um im nächsten Moment enttäuscht zu sein, dass ich ‚nur‘ zwei Stück ihrer Torte gegessen hatte.  
Als Oma kränker wurde, fiel es mir schwer sie zu besuchen. Ich erinnere mich, als ich in ihr Zimmer im Heim kam, in das sie damals aufgrund ihrer Demenz musste und sie wie ein kleines krankes Kind im Bett lag. 
Wie mein Vater damals. Diese kräftigen, patenten Menschen, denen plötzlich das Leben zu fehlen scheint. Die immer die Starken waren und auf einmal waren sie das nicht mehr. Ich konnte es nicht aushalten. Ich ging nie wieder hin.   

Ich wünschte, jemand hätte es mir gesagt, bevor ich in ihr Zimmer ging. Hätte mich vorbereitet, wie sie aussieht, wie gebrechlich sie geworden ist. Es hätte mich vielleicht weniger nachhaltig geschockt. Und ich wünschte, ich hätte es jemandem erzählen können damals. Ich dachte -wie so oft- „das ist eben so“ und hielt aus. So wie wir alle aushalten und ertragen und runterschlucken und die schwierigen Dinge mit uns selbst ausmachen.  

Blumenkleider 

Ich bitte also meine Mutter, mir ein Foto von meiner Oma zu schicken. „Eins mit einem ihrer Blumenkleider“ wünsche ich mir und meine Mutter sagt „Oma hatte immer Blumenkleider an“. Meine Mutter schickt mir drei per WhatsApp. Auf einem steht Oma im Garten, im Blumenkleid und hat mich auf dem Arm.  


Ich war nicht vorbereitet und sofort habe ich Tränen in den Augen. Mir fehlt der Garten, mir fehlt die unbeschwerte Kindheit. Mir fehlt die Romantik von Einkochen, Kochen, frisch geerntetem auf dem Tisch mit der Wachstischdecke. Mir fehlen Omas fettige Finger, wenn sie mal wieder ein Stück Fleisch vom Knochen geknabbert hat. Nichts durfte übrigbleiben. Essen war wertvoll, weil sie Zeiten kannte, in denen es nichts gegeben hatte.  

„Das, was Du für andere tust, ist manchmal das, was Du selbst brauchst“ 

Ich realisiere, dass diese Trauerwoche, die ich mit ins Leben gerufen habe, auch für mich als Trauernde ist. Oma hat während der Trauerwoche ihren 10. Todestag, am 31.10.2023.  
10 Jahre sind vergangen und ich spreche zum ersten Mal öffentlich darüber, dass ich damals nicht da war. Ich habe nie Abschied genommen von ihr. Ich war auf ihrer Sargfeier, aber nicht bei der Beisetzung ihrer Urne. Erst vor 3 Jahren hat mir mein Onkel gezeigt, wo eigentlich ihr (teilanonymes) Grab ist. Es ist mir alles so fremd. Damals hieß es „da wird ja nur die Urne noch beerdigt, das ist nicht so wichtig, da musst Du nicht extra kommen.“ Ich kam auch nicht.  
 
Ich wünschte heute, ich hätte Asche von ihr behalten und irgendwann an ihren Geburtsort bringen können – ich glaube, den hat sie immer vermisst. Aber ich wusste damals nicht, dass man solche Rituale machen kann oder warum es wichtig sein könnte. 

Es ist egal, wie lange jemand schon tot ist. Die Trauer bleibt, manchmal kommt sie erst später, manchmal sind wir gar nicht in der Lage zu trauern, weil wir nie gelernt haben, mit unseren Gefühlen umzugehen. Und manchmal begreift man jedes Jahr etwas neues, fühlt es sich jedes Jahr anders an oder kommen gewisse Gefühle immer wieder … Das ist Trauer und das ist normal. 

Es ist der 30.10.2023 und wir eröffnen die Trauerwoche. Im virtuellen Raum hängt ein Bild von meinem Vater mit mir auf dem Schoss und das von meiner Oma mit mir auf dem Arm. Im Anschluss fragt mich Lilli, wie meine Oma hieß. „Lydia“, sage ich. „Lydia“ wiederholt sie und sagt „ich denke morgen an sie“.   

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