Es sind die Märchen, die uns von kleinauf mit auf den Weg gegeben werden. Geschichten von Königen und Prinzessinnen, vom bösen Wolf und dem Jäger, von Fröschen, alten Hexen und der gefürchteten Stiefmutter. Und gerade Kinder verstehen Märchen am besten, denn sie haben einen intuitiven Zugang zu den Geschichten. Auch für Erwachsene sind Märchen äußerst lehrreich, und, wie der Psycholoanalytiker Eugen Drewermann meint, auch sehr heilsam für die Seele.
Im Folgenden soll das Grimmsche Märchen Fundevogel religionsphilosophisch und tiefenpsychologisch gedeutet werden, angelehnt an Eugen Drewermanns Interpretation in An den Grenzen der Medizin. Märchen zwischen Heilung und Hoffnung1. Das Märchen soll uns Auskunft darüber geben, wie wir mit dem Bewusstsein über die eigene Sterblichkeit leben können. Und was steckt eigentlich hinter der uns allen vertrauten Schlussformel eines jeden Märchens: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute?
Fundevogel
Aus Kinder und Hausmärchen – Grimm 1857 I
Es war einmal ein Förster, der gieng in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als obs ein kleines Kind wäre. Er gieng dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schooße gesehen: da war er hinzu geflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.
Der Förster stieg hinauf, holte das Kind herunter und dachte „du willst das Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehn.“ Er brachte es also heim, und die zwei Kinder wuchsen mit einander auf. Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Fundevogel geheißen. Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.
Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fieng an Wasser zu schleppen, und gieng nicht einmal sondern vielemal hinaus an den Brunnen. Lenchen sah es und sprach „hör einmal, alte Sanne, was trägst du denn so viel Wasser zu?“ „Wenn dus keinem Menschen wieder sagen willst, so will ich dirs wohl sagen.“ Da sagte Lenchen nein, sie wollte es keinem Menschen wiedersagen, so sprach die Köchin „morgen früh, wenn der Förster auf die Jagd ist, da koche ich das Wasser, und wenns im Kessel siedet, werfe ich den Fundevogel nein, und will ihn darin kochen.“
Des andern Morgens in aller Frühe stieg der Förster auf und gieng auf die Jagd, und als er weg war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel „verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht:“ so sprach der Fundevogel „nun und nimmermehr.“ Da sprach Lenchen „ich will es dir nur sagen, die alte Sanne schleppte gestern Abend so viel Eimer Wasser ins Haus, da fragte ich sie warum sie das thäte, so sagte sie, wenn ichs keinem Menschen sagen wollte, so wollte sie es mir wohl sagen: sprach ich, ich wollte es gewiß keinem Menschen sagen: da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die Jagd wäre, wollte sie den Kessel voll Wasser sieden, dich hineinwerfen und kochen. Wir wollen aber geschwind aufsteigen, uns anziehen und zusammen fortgehen.“
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und giengen fort. Wie nun das Wasser im Kessel kochte, gieng die Köchin in die Schlafkammer, wollte den Fundevogel holen und ihn hinein werfen. Aber, als sie hinein kam und zu den Betten trat, waren die Kinder alle beide fort: da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor sich „was will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht daß die Kinder weg sind? Geschwind hinten nach, daß wir sie wieder kriegen.“
Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einlangen. Die Kinder aber saßen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem laufen sahen, sprach Lenchen zum Fundevogel „verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.“ So sprach Fundevogel „nun und nimmermehr.“ Da sagte Lenchen „werde du zum Rosenstöckchen, und ich zum Röschen darauf.“ Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen, so war nichts da als ein Rosenstrauch und ein Röschen oben drauf, die Kinder aber nirgend. Da sprachen sie „hier ist nichts zu machen,“ und giengen heim und sagten der Köchin sie hätten nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben darauf. Da schalt die alte Köchin, „ihr Einfaltspinsel, ihr hättet das Rosenstöckchen sollen entzwei schneiden und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen, geschwind und thuts.“ Sie mußten also zum zweitenmal hinaus und suchen. Die Kinder sahen sie aber von weitem kommen, da sprach Lenchen „Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.“ Fundevogel sagte „nun und nimmermehr.“ Sprach Lenchen „so werde du eine Kirche und ich die Krone darin.“ Wie nun die drei Knechte dahin kamen, war nichts da als eine Kirche und eine Krone darin. Sie sprachen also zu einander „was sollen wir hier machen, laßt uns nach Hause gehen.“ Wie sie nach Haus kamen, fragte die Köchin ob sie nichts gefunden hätten: so sagten sie nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine Krone darin gewesen. „Ihr Narren,“ schalt die Köchin, „warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit heim gebracht?“ Nun machte sich die alte Köchin selbst auf die Beine und gieng mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach. Da sprach Lenchen „Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht.“ Da sprach der Fundevogel „nun und nimmermehr.“ Sprach Lenchen „werde zum Teich und ich die Ente drauf.“ Die Köchin aber kam herzu, und als sie den Teich sahe, legte sie sich drüber hin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, faßte sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein: da mußte die alte Hexe ertrinken. Da giengen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.
Symbolhafte Deutung des Märchens Fundevogel
In den 1920er Jahren wurde in Afrika ein fossiler Schädel eines Kleinkindes entdeckt, der seinerzeit das älteste fossile Relikt unserer Vorfahren war, das wir kannten. Jahrzehnte später erst entdeckte man an dem Schädel des sogenannten „Kind von Taung“ Krallenabdrücke eines Raubvogels. So war gewisserweise das erste Relikt der Menschheit der Schädel eines gestohlenen Kindes, eines „Fundevogels“.
Und wie symbolisch kraftvoller könnte man die Bewusstwerdung des eigenen Selbst, das ins Leben Gerufenwerden besser beschreiben, als im Raub eines hilflosen Kindes aus dem Schoße der schlafenden Mutter (Erde) durch einen riesigen Raubvogel, das nun alleine auf sich gestellt in äußerste Gefahr gebracht wird? Die Schwingen des Bewusstseins spreizen ihre Flügel, der Mensch, in tiefer Sehnsucht nach immerwährender kindlicher Erdverbundenheit im Schoße der ewig gütigen Mutter, erkennt nun plötzlich seine eigene Sterblichkeit. Und hat nichts weiter als seinen Verstand, der den Tod erst bewusst gemacht hat und nun als einziges Werkzeug dienen muss, sich vor eben diesem zu schützen. Erst mit dem Bewusstsein über sich selbst kommen dem Menschen die Fragen auf, auf welche der Geist selbst keine befriedigenden Antworten geben kann: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn unserer Existenz? Und so wird unser Bewusstsein zum Feind, wie ein Raubvogel, der uns aus unserem seligen Schlummer und Einssein reißt und in eine Welt wirft, in der der Tod als schmerzliche Realität allgegenwärtig ist.
Das Märchen Fundevogel fragt danach, wie man als Mensch mit Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit leben kann. Denn sobald der Fundevogel vom Lenchen von seinem drohenden Tod, das heißt über die Pläne, die die gefräßige Köchin Natur mit ihm hat, aufgeklärt wird, kann er nicht mehr anders als sich auf die Flucht zu begeben. Wir alle sind Fundevögel, die eines Tages erkannt haben, dass die Menschen, die wir lieben nicht unendlich leben, dass wir sogar selbst sterblich sind und dass das Leben in seiner Vergänglichkeit kalt und unbarmherzig sein kann. Der Biochemiker Ludwig von Bertalanffy fasste die Komplexität unseres Organismus treffend in Worte als er meinte:
Mit der Mehrzelligkeit kam der Tod. Mit dem Nervensystem kam der Schmerz und mit dem Bewusstsein kam die Angst.
Ludwig von Beralanffy
Und was anderes kann nur die erste Reaktion auf diese Bewusstwerdung sein als alles in den eigenen Kräften stehende zu tun, den Tod möglichst lange für uns und die anderen aufzuhalten, vor ihm zu fliehen, zu verdrängen und auszulagern?
Auch der Fundevogel begibt sich auf die Flucht. Doch stürmt er nicht Hals über Kopf alleine los, sobald er von dem geplanten Anschlag auf sein Leben hört, sondern bleibt mit Lenchen zusammen. Die beiden Kinder haben eine enge Zusammengehörigkeit zueinander. Sie sind gemeinsam aufgewachsen, der Förster zog den Fundevogel zusammen mit seiner eigenen Tochter wie sein eigenes Kind groß; die beiden sind Geschwister unterschiedlicher Herkunft und so eng miteinander vertraut, ja sie hatten sich so lieb, „dass wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.“ Und so ist es undenkbar, dass die beiden sich trennen, auch nicht, wenn der drohende Tod bevorsteht. Um sich ihrer Liebe noch einmal zu vergewissern, schwören sie sich gegenseitig ihre Treue und machen sich erst dann gemeinsam auf die Flucht vor der verschlingenden Köchin. Das Motiv der beiden Geschwister kommt häufiger in Märchen vor. Auch in Brüderchen und Schwesterchen fliehen zwei Geschwister vor dem drohenden Tod. Interpretiert man die Zusammengehörigkeit der Kinder tiefenpsychologisch, erkennt man in ihnen die Symbiose von Anima und Animus, die zwei wichtigsten Archetypen aus der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung. Sie sind zwei zusammengehörige Seelenanteile im Unbewussten des Menschen, wobei man die Anima als weiblichen emotional wärmeren Seelenanteil und Animus als männlichen rationaleren Seelenanteil bezeichnet, die unabhängig vom Geschlecht in jedem Menschen walten. Dass diese beiden Seelenanteile, der Fundevogel und das Lenchen, zusammenhalten ist für das Überleben einer gesunden Seele unverzichtbar. Nur zusammen können sie den Knechten der Köchin, den Vorboten des Todes und schließlich der Köchin selbst entkommen.
Und die Köchin, wer ist sie eigentlich? Da sie völlig willkürlich von einem Tag auf den anderen beschließt den Fundevogel zu kochen und zu essen, stellt sie eine enorme Bedrohung dar. Sie ist alt, unberechenbar, grobschlächtig und völlig gefühlskalt. Sie stellt im Prinzip die gefräßige Mutter Natur selbst dar, die an einem Tag noch ihre Kinder ernährt, sie am nächsten Tag schon verschlingt, völlig blind und willkürlich. Sie symbolisiert das Prinzip Fressen oder Gefressenwerden, den täglichen Kampf ums Überleben, den unbarmherzigen Kreislauf der Nahrungskette, die Fressende und Gefressene miteinander verknüpft.
Und der Förster? Der Förster symbolisiert in seiner Tätigkeit als Verwalter und Lenker eines lebendigen (Wald)Systems ein Urbild planender nüchterner Ratio. Als Jäger erlegt er und zerlegt in Einzelheiten, kann klassifizieren, mit analytischer Vernunft Sachverhalte nüchtern betrachten. Aber er weiß keine Antworten auf die Fragen des Todes und hält sich während des Anschlages buchstäblich im Walde auf. Für den Rest des Märchens spielt er keine Rolle mehr; er kann die Kinder nicht retten.
Die erste Verwandlung: Rosenstock und Röschen
Also machen sich die Kinder gemeinsam auf die Flucht und kaum hat die Köchin ihr Verschwinden bemerkt, setzt sie auch schon ihre Knechte auf sie an. Alsbald die Kinder die Knechte näherkommen sehen, hat Lenchen die entscheidende Idee: „Werde du zum Rosenstöckchen und ich zum Röschen darauf.“ Wieder vergewissern sie sich vorher ihrer gegenseitigen Treue und verwandeln sich in ein Rosenstöckchen und ein Röschen darauf, sodass die Knechte sie nicht finden können und wieder umkehren. Und so beginnt das erfolgreiche Versteckspiel vor dem Tod: eine Flucht, bei der man immer wieder innehält und sich in etwas verwandelt, sodass der Tod einen nicht erkennen und greifen kann. Und was könnte eine schönere, prachtvollere und üppigere erste Verwandlung am Anfang der Reise sein, als das blühende und lebendige Symbol erwachender Jugend in Form einer wunderschönen Rose? Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Jugend, das Leben in vollen Zügen lebend, aufblühend zu einer wunderschönen Persönlichkeit – all das verkörpert die blühende Rose, in die sich das Lenchen verwandelt. Doch sie hätte keinen Bestand ohne den Rosenstock, der sie begründet und mit der Erde verwurzelt. Der Rosenstock könnte die geistige Reife symbolsieren, die es braucht, eine Rosenknospe hervor zu bringen, sich selbst mit geistigen Mitteln eine Daseinsberechtigung in der Welt zu bieten; sich in sich selbst zu verwurzeln, um Bestand zu haben. Nur zusammen können die beiden diese Einheit bilden, die es braucht, um dem seelischen Siechtum und Tod zu entgehen. Denn wie viele Menschen leiden ihr ganzes späteres Leben darunter, wenn sie keine unbeschwerte Jugend erleben durften, wenn sie nicht ohne Schuld oder Scham zu einer eigenen Persönlichkeit erblühen durften und das Leben für diese Zeit genießen konnten? Die Rede ist hier nicht vom körperlichen Tod alleine, sondern von dem seelischen Tod. Es braucht seelische Stärke und Einheit, um in der Welt zurecht zu kommen und in jedem Lebensabschnitt bedarf es anderer Fähigkeiten, um ihn erfolgreich zu meistern und „weiterziehen“ zu können. Es bedarf einer Reifung der Persönlichkeit, einer Wandlung, um nicht in Starre und Stagnation zu verfallen.
Die zweite Verwandlung: Kirche und Krone
Doch würde es nicht reichen sein Leben lang im Kleide üppiger schöner Jugend zu bleiben. Wie viele Menschen klammern sich gerade an das Ideal ewiger Jugend, fürchten sich vor Falten und ergrauten Haaren und unterziehen sich vielleicht sogar Operationen, um den Prozess des Alterns unsichtbar werden zu lassen?
So geht die Flucht vor den Häschern des Todes weiter, denn kaum sind sie mit leeren Händen zurückgekehrt, da sagt ihnen die Köchin, dass die Rose und das Rosenstöckchen eigentlich die gesuchten Kinder waren und schickt sie wieder los – die Tarnung ist also aufgeflogen. Und so machen sich der Fundevogel und das Lenchen wieder auf den Weg und kaum sehen sie die Knechte der Köchin herannahen, halten sie inne und müssen sich eine neue Verwandlung überlegen. Wieder ist es das Lenchen, das den entscheidenden Einfall hat: „So werde du eine Kirche und ich die Krone darin.“ Und nachdem sie sich ihrer gegenseitigen Treue vergewisserten, verwandelt sich der Fundevogel in eine Kirche und das Lenchen in eine Krone.
Vorab ist anzumerken, dass hier mit der Kirche nicht einfach das Gotteshaus einer bestimmten Religion gemeint ist, in dem Messen und Feiern abgehalten werden. Drewermann beschreibt die Kirche als Heiligtum des Menschen, als Ort der Geborgenheit, die den Menschen aufnimmt und ihm eine Sphäre der Absolution schenkt. Als ein verloren geglaubtes Paradies, in welchem der Mensch wusste, dass er so wie er ist gewollt ist und sein darf, sich verbindend mit einem größeren Sinn und Sein. Und so beschreibt er symbolhaft die einzelnen Elemente einer Kirche, als dem Menschen tief zugrunde liegende Manifestationen seines Wesens, zum Beispiel das Kirchengewölbe und die Krypta als Höhle im Zeichen von Heimkehr und Geborgenheit oder die Symbole von Neuanfang und Wiedergeburt im Zeichen der Taufe. Den Ort, wo der Himmel die Erde und Gott den Menschen im Herzen berührt im Zeichen des Altars und des Kreuzes.
Wenn der Mensch innehält und sich selber eine Kirche wird, ein steingewordenes Symbol der absoluten Daseinsberechtigung und inneren Ruhe und Einkehr, zusammen mit einer Krone, die seit jeher als Herrschaftssymbol, als Vollendung individuellen Seins, als Erkorenheit durch das Göttliche selbst gilt, dann kann der Tod einen nicht finden.
Eine kleine Anmerkung zur Symbolfigur König/ Krone: in beinahe jedem Märchen taucht ein König und eine Königin auf, oder ein Königssohn und eine Prinzesschen. In der tiefenpsychologischen Deutung dieser Symbole geht man nicht von der damals gängigen feudalen Herrschaftsform aus, wonach ein Märchen in seiner Moral antiquiert oder „undemokratisch“ erscheinen könnte. Im Gegenteil: König und Königin, Amme und Knecht, Koch und Bauer gelten alle als Seeleanteile des Menschen. Der ganze Hofstaat ist ein Symbol der Seele selbst und in ihm trohnt, wie könnte es anders sein, das Königspaar mit ihren Kronen als Symbol göttlicher Auserwählung, dem strahlenden Glanz ähnlich der Sonne, der in Form des unendlichen Kreises ihr Haupt schmückt. Jeder Mensch ist also in sich König und Königin; das Gegenteil feudaler Herrschaftsstrukturen in dem Sinne.
In der Lebensmitte fallen viele Menschen in eine tiefe Sinnkrise, in der es nicht mehr genügt, sich ins „Kleide der Jugend“ zu hüllen. Man muss eine neue Gestalt finden, sich selbst neu entdecken, herausfinden, was einen persönlich wirklich ausmacht und sein bisheriges und zukünftiges Leben neu überdenken. Das Symbol einer Kirche mit festen Grundmauern, doch leuchtend bunten lichtdurchlässigen Fenstern, feststehend auf der Erde, doch mit Türmen, die in den Himmel ragen und im Inneren das heilige Symbol einer Krone des eigenen individuellen und autarken Seins, ist eine sehr treffende Beschreibung für diese Verwandlung.
Die dritte Verwandlung: See und Ente
Nachdem die Knechte der Köchin, die Vorboten des Todes zum zweiten Mal mit leeren Händen zurückkehren mussten, macht sich nun die Köchin persönlich auf die Suche nach den Kindern. Als diese die Köchin herannahen sahen, vergewissern sie sich ein letztes Mal ihrer gegenseitigen Treue und Lenchen hat die Idee: „Werde du zum Teich und ich die Ente darauf.“ Und kaum haben sie sich verwandelt, erreicht sie die Köchin und weiß gleich, dass das die beiden Kinder sind, denn Tod selbst kann man nicht austricksen. Also beugt sie sich vornüber und will den ganzen See aufsaufen.
Wenn man sein Leben lang der Angst vor dem Tod und der Starre der Seele getrotzt hat, bleibt am Ende nur noch eines, was gewiss ist: der physische Tod. Doch das Märchen vom Fundevogel erzählt so bilderreich und so hoffnungsvoll, das mit der letzten Verwandlung auch dieser besiegt werden kann: der Verwandlung in einen See und eine Ente. Drewermann entlehnt diese Symbole aus der ägyptischen Mythologie, demnach der See für die unergründliche Weite des Seins, das Spiegeln des Horizonts in ihm für Unendlichkeit steht und die Ente für den göttlichen Urvogel, der das Ei aus dem die Welt entsteht, legt. Beide sind zusammengehörig die Symbole für das geheimnisvolle Entstehen des Alls aus dem Nichts. Kann der Mensch seine Seele gleich den Urfluten so weit öffnen, seinen Horizont so weit dehnen, dass er die Weite des Seins erfasst, so das Märchen, wird er dem Geheimnis gewahr, dass das Leben ewig ist. Nichts stirbt, alles wandelt nur seine Gestalt. Die Ente auf dem See vermag die Köchin in die Tiefen zu ziehen. Die Ente widerspricht der Angst vor dem Ausgelöscht und nichtig Gemachtwerden des Todes, der den Menschen als Individuum töten und gleichmachen, ja, ihn gewissermaßen selbst in seine Tiefen ziehen will. Die Köchin, das heißt der Tod, versucht sich ja den See selbst einzuverleiben, indem sie beginnt ihn aufzusaufen. Doch die Ente, das Leben selbst, ertränkt den Tod in den Weiten des Seins. Vielleicht ist die Ente als Vogel auch hier wie bei den alten Ägyptern ein Symbol für die Seele, die ihre Flügel spannen und gen Himmel fliegen kann. Denn auch, wenn der physische Tod gewiss ist, bleibt Grund zu der Annahme bestehen, dass sich im Moment des Todes nur die Seele von ihren irdischen Fesseln befreit und heimkehrt in die ewigen Gründe des Himmels, ihrer Heimat. Denn wäre das denn ein geringeres Wunder, wie jenes, dass man als sich selbst bewusstes Individuum überhaupt existiert?
Die Kinder haben die Hexe mit ihrer tiefen Verbundenheit und Fähigkeit zur Wandlung besiegt, die scheinbare Macht der gefrässigen Natur, des Todes selbst, gebrochen und können nun friedlich nach Hause gehen. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Dies bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass ein Mensch lebt, auch, wenn er stirbt.
Zur Person
Eugen Drewermann
Der deutsche Psychoanalytiker, Theologe und Schriftsteller Eugen Drewermann wurde 1940 in Bergkamen geboren und wurde als suspendierter katholischer Priester bekannt, der die Kirche als Organisation und in ihrer Dogmatik scharf kritisiert. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der tiefenpsychologischen Exegese, das heißt einer Interpretation der Bibel, die auf psychoanalytischen Erkenntnissen beruht und sich nicht an historischen Ereignissen orientiert.
Drewermann setzt sich noch heute mit über 80 Jahren stark für den Frieden ein und spricht sich in seinen Reden und Vorträgen für gewaltfreie Verständigung zwischen Völkern und Religionen, für die Abschaffung der Bundeswehr und für den Tierschutz aus.
Vielseitig gebildet versucht er eine Brücke zwischen Glauben und Naturwissenschaften zu bauen und kritisiert die Kirche für ihre mangelnde Auseinandersetzung mit der Hirnforschung und Evolutionstheorie, denn „es kann nicht richtig über Gott denken, wer falsch über die Natur denkt.“
Zentrale Gedanken Drewermanns Theologie und Philosophie sind zum Beispiel, dass der Mensch sein Seelenheil und somit auch Gott nur finden kann, wenn er mit sich selbst ins Reine kommt. Und dass man nur dann zu einer guten Religionsauffassung kommen kann, wenn man in sein Denken alle Religionen, religiösen Strömungen, Kunst und Kultur aller Völker verschiedener Zeiten miteinbezieht, statt sich auf dogmatische Lehren zu versteifen. Den wichtigsten Stellenwert gibt Drewermann der Liebe, die den Menschen von jeglicher Last befreien und zu sich selbst, zu Gott, zu führen kann.
Mittlerweile ist Drewermann auch für seine zahlreichen Märcheninterpretationen bekannt. Er analysiert Märchen, vor allem die der Gebrüder Grimm, tiefenpsychologisch und religionsphilsophisch und betont ihre Wichtigkeit für die seelische Entwicklung des Menschen. Nicht nur für Kinder, die einen intuitiven Zugang zur Wahrheit im Märchen haben, sondern auch für Erwachsene, die vergessen haben, was es heißt die Welt aus den Augen eines Kindes zu sehen und durch das Märchen eine Deutung der Bilder ihrer eigenen Seele finden können.
Eugen Drewermann während seiner ersten USA-Vortragsreise im November 1999
M. Beier Mabim2002, Public domain, via Wikimedia Commons