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In der Buchrubrik Beginnen wir am Ende nimmt Tom Schröpfer Literatur als Startpunkt für die Auseinandersetzung mit den Themen Abschied, Sterben, Tod und Trauer. Was kann Literatur? Wo hilft sie beim Abschiednehmen? Und welche Themen lassen sich mit ihr verhandeln?

Neulich fiel mir mal wieder eines meiner Lieblingsbücher in die Hände:

Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht – Friedhofsgänge mit Schriftstellern

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Das Buch ist leider schon seit einigen Jahren vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. *Provisions-Link

In seinem 2013 veröffentlichten Buch hat der Journalist Tobias Wenzel mit Fotos und Texten seine Begegnungen mit prominenten Autor*innen auf Friedhöfen festgehalten. Einzige Bedingung war: Sie sollten selbst aussuchen, welcher Friedhof es für ihr Treffen sein sollte.

Warum fasziniert mich dieses Buch immer wieder so?

Weil es auf unkomplizierte Weise schafft, was mich an guten künstlerischen Werken und Momenten wiederholt beeindruckt: es führt uns in etwas Ungewisses, das wir mit unserer Alltagslogik nicht sofort begreifen und entschlüsseln können und lässt uns mit dieser Unsicherheit doch nicht allein. Es bietet einen geschützten Rahmen, in dem wir uns mit unseren Gefühlen zur Endlichkeit, zum Tod und zur Trauer auseinandersetzen können, ohne dabei pathetisch zu werden. Es ist eine Einladung Unsicherheit auszuhalten.

Ich blätterte herum, tauchte ein in die atmosphärischen Fotografien und las das ein oder andere Textfragment, bis ich beim Beitrag über Neil Gaiman hängen blieb. Die Eindrücke des in Glasgow stattgefundenen Treffens montiert Wenzel mit Fragmenten aus Gaimans Romanen und dem, was Gaiman während des Spaziergangs berichtet. Und dann kommt die Stelle, in der Gaiman erzählt, wie er sich beim Probeliegen im Sarg gefühlt hat. Wie konnte ich dieses Detail bislang übersehen?

Oft wird den Bestatter*innen, die auch öffentlichkeitswirksames Kulturprogramm anbieten, die Frage gestellt, was dieses ganze Beschäftigen mit dem Tod und der Trauer zu Lebzeiten denn solle. Schließlich würde der Tod doch erst dann wirklich begreifbar, wenn das Lebensende unumgänglich abzusehen sei. Wer sich im Vorfeld mit ihm beschäftige, könne ohnehin nie an die Eindrücke herankommen, die er mit seiner unumkehrbaren Eindeutigkeit mit sich bringe, weil man sich immer wieder auch abwenden, anderen Themen zuwenden oder sich auf sicheres Terrain zurückziehen kann. Die maximale Unsicherheit, etwas derart Unbekanntem gegenüberzustehen, sei nur mit ihm erfahrbar.

Warum also solche Aktionen wie das Probeliegen im Sarg?

Mir geht es beim Probeliegen im Sarg nicht darum, den Tod zu üben. Vielmehr bietet diese Aktion immer wieder einen Gesprächsanstoß aufgrund der starken Symbolkraft. Es gibt viele Themen rund um den Tod, über die wir sprechen können, doch fehlt oft das ganz konkrete, gemeinsam verbindende Element. Wenn eine Gruppe ein Bestattungshaus besucht und eingeladen wird, das Probeliegen im Sarg zu versuchen, ist dieses gemeinsame Erlebnis sofort greifbar. Die einen schlucken, für die anderen ist es eine Mutprobe und wieder andere legen sich fast beiläufig hinein. Aber immer transportiert der Sarg eine gewisse Ruhe und Achtung vor denjenigen, die es gerade wagen. Es entsteht Gelächter, manch eine wendet sich ab. Jemand verlässt den Raum, um es danach doch zu versuchen. Einige beobachten lieber. Einer möchte das Sargoberteil nur von einer ganz bestimmten Person im Raum geschlossen bekommen.

Der Wunsch nach Austausch ist danach immens: Das riecht so intensiv nach Holz! War es für Dich auch so eng? Wie konntest Du es so lange aushalten? War das Verschließen für Euch auch so komisch? Ich fand es total bequem. Der Deckel war leichter, als gedacht.

Die wenigsten können bei dieser Aktion an etwas Vertrautes anknüpfen. Sie betreten Neuland, wissen nicht so recht worauf sie sich einlassen, sind verunsichert und probieren es doch. Der Halt der Gruppe hilft, und die Gewissheit, hier nicht vorgeführt zu werden, denn für diese Atmosphäre sorgen die Bestatter*innen.

Im Grunde ist es das, was gute Kunst für mich ausmacht und weshalb ich diese Aktionen als Performances begreife. Die Beteiligten setzen im geschützten Rahmen ihr Bekanntes aufs Spiel und werden ermutigt neue Eindrücke und neue Wahrnehmungen auszuprobieren.

Vielleicht mag denen, die zum Besuch ins Bestattungshaus kommen, die Thematik nicht neu sein. Womöglich haben sie Endlichkeit schon einmal erfahren, vielleicht am eigenen Leib, vielleicht in der Begleitung von Freunden. Vielleicht sind sie aufgrund ihres Berufsbildes häufiger mit dem Tod konfrontiert, denn nicht selten nehmen Pflegekräfte und Palliativbegleiter*innen solche Gelegenheiten wahr. Doch das Probeliegen bietet in den meisten Fällen eine neue, ggf. verunsichernde Perspektive. Sie begeben sich in eine Erfahrung, die körperlich und psychisch außergwöhnlich und vollkommen neuartig und – wie ich häufig beobachten konnte – für viele sprachlich zunächst schwer zu fassen ist.

Die Kunst besteht meines Erachtens in diesem Moment darin, diese Unsicherheit nicht beiseite zu räumen, sie nicht als etwas Bezwingbares zu betrachten, sondern sie auszuhalten, sie gewähren zu lassen und zu erkunden. Möglichkeiten im Umgang mit ihr auszuprobieren, ggf. ein Scheitern zu ertragen und sich Zeit für Variationen im Einordnen zu nehmen. Dabei kann das Setting helfen. Wenn jede*r genügend Zeit für diese Fremdheitserfahrung bekommt, der Raum für Austauschbedarf bedacht ist und der nächste Punkt im Tag etwas Luft zum Nachwirken lässt, ist schon viel geholfen – auch wenn das nicht alle brauchen.

Vollkommen anders und doch ähnlich, schafft das Tobias Wenzel mit seinem Buch zu den Friedhofsgängen mit verschiedensten Autor*innen auch. Die einzelnen Beiträge erzeugen auf unterschiedliche Weise dichte Atmosphären und geben aufgrund des assoziativen Schreibstils das Gefühl des Spaziergangs wieder. Wenzel hat eine gute Mischung aus dem Berichten über die Umstände des jeweiligen Treffens, dem Einfangen der Stimmung des Spaziergangs und den Erzählungen der Autor*innen gefunden. Die Fotografien laden zudem zum Verweilen in den jeweiligen Texten ein. Verwoben mit den Themen, die seine Gesprächspartner*innen mitbringen und jenen, die diese besonderen Orte transportieren, nimmt Wenzels Buch seine Lesenden auf Ausflüge in sehr sensible Welten mit, die Einblicke in persönliche Geschichten erlauben. Die dabei entstehende Intimität schafft Nähe zu den beteiligten Personen und öffnet zugleich die eigene innere Bereitschaft zur Verhandlung der in den Texten angesprochenen Themen.

Wenzels Bucht verleiht einem Thema Leichtigkeit, das für viele Menschen Hürden in der Annäherung bedeutet und ist dabei alles andere als oberflächlich. Es erzeugt auf schlichte Weise Intimität und lässt seine Leserschaft, aufgrund der zugewandten Art der Begegnungen in den Texten, nicht mit der plötzlichen Nähe zu der ungewöhnlichen Thematik allein.

Kein Wunder also, dass mir dieses Buch immer wieder in die Hände fällt. Denn wenn künstlerische Werke und Performances auf solche Weise zum Erkunden von Möglichkeitsräumen und dem Gewähren von Unsicherheiten einladen, kann ich nicht anders, als fasziniert zu sein.


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