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Yewell Unsplash
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Tom Schröpfer
Tom Schröpfer Kolumne 'BEGINNEN WIR AM ENDE'
6-2021

In der Buchrubrik Beginnen wir am Ende nimmt Tom Schröpfer Literatur als Startpunkt für die Auseinandersetzung mit den Themen Abschied, Sterben, Tod und Trauer.

Was kann Literatur? Wo hilft sie beim Abschiednehmen? Und welche Themen lassen sich mit ihr verhandeln?

In den Gesprächen, die ich als Bestatter mit An- und Zugehörigen führe, erlebe ich die Menschen häufig mit zwei Bedürfnissen gleichzeitig: einerseits ist da die überwältigende Emotionalität, die nicht zurückgehalten werden will und kann. Andererseits ist da der Wunsch nach Pragmatismus: Ordnung schaffen in dem überbordenden Durcheinander teils widersprüchlicher Gefühle. Das Bedürfnis nach Klarheit wird dann bei vielen Leuten befriedigt, indem wir Termine definieren, Abmeldungen klären und ganz simpel: die anstehenden Schritte übersichtlich aufschreiben. Doch dieses Notieren und Erfassen kommt meist an seine Grenzen, wenn es um bestimmte Details für die Ausgestaltung einer Abschiedsfeier oder einer Aufbahrung geht. Für die einen ist es der Ablauf der Feier, der nicht klassisch verlaufen soll, für den aber noch Ideen fehlen. Für die anderen sind es Entscheidungen über die Benachrichtigung Dritter, wieder anderen fällt es schwer, überhaupt festzulegen, ob der Abschied im intimen Rahmen oder öffentlich stattfinden soll. Und sehr häufig, kommt es beim Thema Musik ins Stocken …

Kein Wunder. Ähnlich wie Gerüche, ein bestimmtes Bild, oder eine Berührung, vermag Musik es unseren Kopf zu umgehen und ungefiltert direkt unsere Gefühle anzusprechen. Egal also, bei welcher Gelegenheit und auf welche Weise die Musik im Abschiednehmen zum Tragen kommt, sie beeinflusst maßgeblich die Atmosphäre und die Art, wie die Anwesenden den Moment erleben und erinnern werden. Dementsprechend legen viele Wert auf die richtige Auswahl.

Da Musik uns auf diese direkte Weise erreichen kann, kommt es nicht selten vor, dass An- und Zugehörigen an diesem Punkt des Gesprächs ihr Pragmatismus entgleitet und sie sich inmitten ihrer Trauer wiederfinden. Manchmal genügt schon die Erinnerung an einen Klang. Plötzlich ist etwas real, Emotionen brechen auf. Der Umgang mit dieser neuen Realität und diesen Gefühlen fällt alles andere als leicht. Häufig kann das Suchen nach der geeigneten Musik für den geplanten Anlass dabei helfen, die neue Realität zu begreifen und sich mit den komplexen Emotionen auseinanderzusetzen, weshalb ich diese Entscheidung gern vertage, ihr mehr Zeit ermögliche und quasi als „Hausaufgabe“ mitgebe. Als Anregung für die Hausaufgabe, empfehle ich dann gern zwei Bücher, die auf der Suche nach passender Musik helfen und vielleicht sogar noch auf andere Weise unterstützen können …

In seinen beiden Büchern Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens und Letzte Liebeslieder – Was Sterbende wirklich über das Leben und die Liebe denken, erzählt Stefan Weiller von Begegnungen, in denen seine Gesprächspartner:innen der eigenen oder der Endlichkeit eines ihnen nahestehenden Menschen ins Auge blickten. Beide Bücher sind episodisch verfasst, es finden sich viele Einzelschicksale die mal in anekdotischer Kurzform, mal in auserzählten Geschichten niedergeschrieben sind. Zur Ausgangssituation der Begegnungen gehört zum einen die palliative Betreuung seiner Interviewten und zum anderen die vorab vereinbarte Anonymisierung aller Beteiligten sowie die Aufklärung, dass Weiller die Begegnungen in eigenen Worten erzählen und nicht wortgetreu transkribieren wird. Angesichts der teils intimen Details der Gespräche, scheinen diese Voraussetzungen zu einer einladend offenen Atmosphäre geführt zu haben.

Besonders in Weillers erstem Buch Letzte Lieder, spielt Musik eine zentrale Rolle. An (fast) jedem Ende einer Geschichte findet sich mindestens ein zitierter Song, der eine wesentliche Rolle für die Interviewten gespielt hat – und nicht ein Mal gleicht die Rolle der Musik in einer Geschichte der, in einer anderen. Eine Frau wird beim Song aus dem Radio an die eigene Jugend erinnert und bewegt sich zu Uriah Heep – Lady in Black zum Takt. Ein Mann verbietet sich Musik zu hören, und spielt Sultans Of Swing von Dire Straits nur in seinen Gedanken, um das Andenken an seine verstorbene Frau zu wahren. Einer versteht für sich David Bowies Space Oddity neu, nachdem er sich durch die Bedingungen im Hospiz wie ein Astronaut fühlt, der nur noch eigenartige Nahrung auf seltsame Weise zu sich nimmt. Und wieder ein anderer nimmt sein, für sein Empfinden, längst überfälliges Ableben mit Humor, indem er immer wieder De Randfichten mit Lebt denn der alte Holzmichl noch? zitiert. Ehe er doch Let It Be von den Beatles für sich ganz passend findet.

All das sind Anregungen und Hinweise darauf, woher die Inspiration für ein passendes Stück zur musikalischen Gestaltung eines Abschieds kommen kann. Je nachdem, um wen es beim Abschiednehmen geht und wer im Fokus steht (die Verstorbenen oder die An- und Zugehörigen?), kann die Musik in unterschiedliche Richtungen führen. Die Trauer begleiten, ihr Ausdruck geben und Schleusen öffnen? Eine Erinnerung an besondere Erlebnisse aufkommen lassen? Eine Botschaft oder einen Wunsch vermitteln? Die einen suchen im gemeinsamen Gesang Von guten Mächten Halt und erfahren sich durch dieses Ritual als Gemeinschaft. Die anderen möchten dem Motto ihres Verstorbenen Ausdruck verleihen, zu den Tränen auch ein Lachen gesellen, und spielen deshalb Always Look On The Bright Side Of Life.

Das Schöne an Weillers Geschichten ist, dass sie nicht versuchen mehr zu sein, als sie sind. Ja, es sind Erzählungen von Begegnungen mit Menschen in existentiellen Situationen und auch große Emotionen kommen darin vor. Doch Weillers Schreibstil vermittelt nicht den Eindruck hier etwas aufbauschen oder ertragreicher machen zu wollen, als es ist. Die Fakten eingebettet in einen verdichteten Erzählbogen genügen, um die Situation und zuweilen die Drastik des jeweiligen Schicksals zu vermitteln. Es braucht kein großes Ausschmücken, wenn ein Anfang Zwanzigjähriger auf seinem Sterbebett erzählt, wie sehr er die Liebe seines Lebens liebt, egal wie lange er lebt. Es braucht nicht mehr als die Nennung des Songs zu dem sie das erste Mal auf einer Party tanzten, um zu begreifen, was er ihm bedeutet.

Weillers zweites Buch Letzte Liebeslieder beinhaltet auch mehrteilige Geschichten, die in verschiedenen Episoden über das ganze Buch verteilt sind. Die einzelnen Geschichten queren sich auf diese Weise gegenseitig, so dass die Leser:innen selbst entscheiden müssen, ob sich deren Inhalte ergänzen oder unterbrechen. Für mich rahmte beim Lesen das Schicksal einer vierköpfigen Familie das Buch. Weiller gelingt es zunächst durch die Augen des jüngsten Sohnes zu erzählen, der seinem Vater in dessen Sterbeprozess sehr nahe ist. Nach dem Tod des Vaters nimmt die Erzählung die Perspektive des etwas älteren Bruders ein, der seinen Bruder in seltsamen Verhaltensweisen beobachtet und selbst trauert. In der dritten Episode wird dann aus der Sicht der Mutter berichtet und wie sie, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, vom plötzlichen Unfalltod ihres jüngsten Sohnes erfährt. Allein das Schicksal dieser Familie, zusammen mit den Nennungen ihrer Verhaltensweisen und des Gestaltens ihrer erzwungenen Abschiede reicht aus, um ihre Dramatik zu verdeutlichen. Zugleich zeigt Weiller so, auf unaufgeregte Weise, wie divers Trauer sein kann und wie unterschiedlich Bedürfnisse und Gefühle nach Ausdruck suchen. Es ist erfrischend, dass Weiller diese Gegebenheiten nicht mehr ausgestaltet, als es für eine runde Erzählung notwendig wäre.

Diese unprätentiöse Art ist der zweite Grund, weshalb ich die Bücher bei Unentschlossenheit und aufbrechenden Emotionen gern mitgebe. Denn neben den Anregungen zur Musiksuche, sind diese Geschichten vor allem Zeugnisse von Abschieden. Zwar hilft der Vergleich mit anderen Verlusten und der Trauer anderer Menschen in der eigenen Trauer nicht wirklich weiter. Jede Trauer ist individuell und muss von den Betroffenen eigenständig gelebt werden. Doch es kann mitunter hilfreich sein zu erfahren, dass auch andere Menschen im Trauern Täler durchwanderten, nicht weiter wussten und dass manche Dinge nicht wieder gut wurden sondern lediglich zu Begleitern im Weiterleben. So kann ein Stück Akzeptanz erfahren werden.

Bestatter:innen begleiten heutzutage meist die Trauer der An- und Zugehörigen und unterstützen nicht nur bei der Organisation und Abwicklung der anfallenden Aufgaben. Und doch passiert es häufig, dass wir nicht mehr als ein bis zwei Gespräche mit ihnen führen. Da ist es hilfreich Impulse setzen zu können, die im Trauerprozess vielleicht weiterführen und neben der konkreten Unterstützung, wie im Finden von angemessener Musik für einen Abschied, auch Trauerbegleitung leisten können. Weillers Bücher können für mich solche Impulse sein, in der Hoffnung, Ohnmachtsgefühle bei Trauernden ein wenig zu lösen.

Kolumne 'BEGINNEN WIR AM ENDE'
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