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Das Leben geht außerhalb der Mauern weiter

Petra ist 50 Jahre alt, examinierte Kinderkrankenschwester und arbeitet seit 30 Jahren in ihrem Beruf. Davon war sie 12 Jahre auf der Intensivstation tätig. In ihrer Arbeit hat sie auch die Herausforderung Kinder auf ihren Sterbeweg zu begleiten. Von ihr möchte ich mehr darüber erfahren, was diese Herausforderung mit ihr macht und wie sie damit umgeht.


Hallo Petra, danke, dass du dir Zeit für uns genommen hast und bereit bist, über dieses schwierige Thema Kinder und Tod mit uns zu reden. Kannst du dich an das erste Kind erinnern, welches während deiner Schicht gestorben ist?

Da war ich noch in meiner Ausbildung. Es war der erste Nachtdienst, den ich hatte. Da war ein schwerbehindertes Mädchen und mir wurde gesagt, dass sie im Sterben liege.

Ich war zu diesem Zeitpunkt selbst erst 19 Jahre alt und aus heutiger Sicht weiß ich schon, dass mich die Situation auch überfordert hat. Ich versuchte meinen Dienst so strukturiert wie möglich durchzuführen. Ab und an ging ich auch zu dem Mädchen und schaute nach dem Rechten.

In den Morgenstunden bemerkte ich, dass sie Schnappatmung hatte und die Hauswache und ein Arzt kamen dazu. Sie verstarb und alles wurde routiniert durchgeführt.

Wenn ich heute zurückblicke, würde ich manches anders machen. Ich würde viel mehr Zeit mit dem Mädchen verbringen, sie so wenig wie möglich alleine lassen. Aber mir ist auch bewusst, dass der Umgang mit dem Tod nur ein recht kleiner Teil meiner Ausbildung war.

Ich selbst war noch viel zu jung, um einen eigenen Weg des Umgangs gefunden haben zu haben. Mich berührte das ganze Geschehen schon, aber gleichzeitig hatte ich auch eine gewisse Distanz in mir. Wahrscheinlich war das doch eine Schutzmauer um mich herum.

Die Mutter des Mädchens war bereits verstorben und der Vater war nicht anwesend. Mich erleichterte dies, denn ich hätte damals wirklich nicht gewusst, wie ich mit einem Angehörigen hätte umgehen sollen.

Könntest du sagen, wie lange es ungefähr gebraucht hat, bis du einen entspannteren Umgang mit sterbenden Menschen gefunden hast?

Es geht gar nicht um Entspannung, da das Sterben immer eine Ausnahmesituation ist. Mein Begriff wäre Akzeptanz, der Tatsache des Todes mit mehr Akzeptanz zu begegnen.

Wie drückt sich diese Akzeptanz aus, was ist anders als früher?

Es gibt ein paar Aspekte, die ich im Lauf der Jahre tief verinnerlicht habe. Dazu gehört, dass der Tod ein fester Bestandteil des Lebens ist.

Ich habe gelernt mir zuzugestehen, dass das Sterben eines Patienten auch für mich immer eine Ausnahmesituation bleibt. Selbstverständlich bleibt ein Teil immer auch professionell, wie im Umgang mit den Hinterbliebenen, aber ich agiere vor allem als Mensch und nicht nur rein professionell. Auch auf die Gefahr hin, dass ich als Mensch auch einige Fehler machen könnte.

Wird dein sehr menschlicher Umgang von den Angehörigen geschätzt?

Ja, das Gefühl habe ich. Gerade Eltern sterbender Kinder brauchen viel emotionale Unterstützung. Würde ich mich hinter einer professionellen Haltung verstecken, dann könnte ich auch zu den Eltern keine emotionale Bindung aufbauen. Diese wird aber von ihnen dringend benötigt. Sie brauchen einen geschützten Raum, in dem sie mit allen ihren Gefühlen sein dürfen. Da ist Trauer, Wut, manchmal aber auch Lachen und noch so vieles mehr.

Ich empfinde es jedes Mal als Gratwanderung, wie viel ich von meinen Gefühlen gegenüber den Eltern zeigen kann. Unabhängig davon, wie lange ein Kind auf unserer Station und wie eng wir unser Verhältnis aufbauen konnten, die Eltern und ihre Emotionen stehen immer im Vordergrund.

Meine Gefühle verarbeite ich vorwiegend im Kontakt mit meinen Kolleginnen. Die Schwester, die gerade den Tod eines ihrer zu betreuenden Kinder erlebt hat, bekommt viel Aufmerksamkeit. Wir helfen uns gegenseitig unsere Erlebnisse aufzuarbeiten. Denn sie machen zweifelsohne etwas mit einem.

Ich habe vor vielen Jahren in der Altenpflege gearbeitet. Ich konnte den Tod meiner Patienten gut verarbeiten, da sie alle ein langes Leben hinter sich hatten. Kinder und Tod erscheinen mir aber keine natürliche Kombination zu sein. Wie siehst du das?

Ich sehe das anders, die Realität ist doch, dass der Tod zum Leben dazugehört und zum Leben Kinder dazugehören. Also sterben auch Kinder. Sie haben in diesen Punkt keinen Sonderstatus. Das mag heutzutage oft so zu scheinen, da wir durch den medizinischen Fortschritt eine viel geringere Kindersterblichkeit als früher haben. Aber gerade Kinder sind so verletzlich, Kinder haben Unfälle, sie leiden an Krankheiten oder kommen missgebildet auf die Welt.

Da ich immer schon mit Kindern arbeite und somit Kinder habe sterben sehen, ist das Sterben von Kindern Teil meiner Realität geworden. Mir ist bewusst, dass der Verlust eines Kindes für die Familie ein Schicksalsschlag ist. Gleichzeitig erlebe ich in der Realität, dass der Tod auch Teil eines Kinderlebens ist.

Dahin zu kommen, war ein sehr langer Weg. Ich habe mich intensiv mit Tod, Sterben und Nahtod beschäftigt. Es ist meine tiefe, spirituelle Überzeugung, dass der Tod ein Übergang in etwas Neues ist.

Und wenn ich recht bedenke, muss ich sagen, dass ich von den Familien, die ich begleiten durfte, auch reich beschenkt wurde.

Konzepte und Schilderungen über den Tod gelesen zu haben, wie beispielsweise die Forschung von Fr. Dr. Kübler – Ross, waren sehr wichtig. Aber der tatsächliche Kontakt mit sterbenden Kindern, der dazugehörige Prozess, die Reaktionen der Eltern, der Tod… all dies war so viel mehr, als was ein Buch jemals hätte wiedergeben können.

Der immer wiederkehrende reale Umgang damit, hat mir die Angst vor der Begegnung genommen, aber auch ein Stück weit vor meinem eigenen Tod. Das ist etwas sehr wertvolles.


Gedanken & Erkenntnisse

Seit meinem Interview mit Petra sind mittlerweile gute zwei Wochen vergangen. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, dass sie uns Einblick in ihre Erkenntnisse und ihren persönlichen Umgang mit dem Tod von Patienten – Kindern gewährt hat. Ihre Worte beschäftigten mich lange, insbesondere ein Aspekt ihrer Schilderungen regte mich sehr zum Nachspüren und Reflektieren ein.

Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als Petra einfach nur auf die Realität hinwies, als ich ihr von meiner Vorstellung erzählte, dass Tod und Kinder nicht zusammengehören sollten.

Sie war sehr ruhig und klar, als sie auf diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen Vorstellung und Realität aufmerksam machte. Sowohl in ihren Worten als auch in der Art, wie sie diese weitergab, lag eine berührende Schlichtheit, die Kraft in sich trug. Die Wahrheit ihrer Aussage sprach für sich und augenblicklich kam etwas in mir zur Ruhe.

Die Qualität dieses Momentes ist mir bekannt, sie tritt immer dann auf, wenn ich es schaffe, den Kampf gegen die Realität ruhen zu lassen, selbst wenn es nur einen Moment lang anhält. Und genau dies geschah gerade, das einverstanden sein mit dem was ist schwappte in diesem Augenblick über mich und ich erfuhr Frieden in der Akzeptanz des Offensichtlichen.

Schmerz, Verlust, Krankheit ebenso wie die Kriege dieser Welt, die Armut, die Ungerechtigkeiten oder eben auch das Sterben von Kindern erzeugen normalerweise Widerstand in uns.

Das ist gut und wichtig, denn dieser Widerstand, dieses Nein, gibt uns oft die nötige Kraft und den Antrieb etwas dagegen zu tun. Dieses Nein steht am Anfang jeder politischen Revolution, dieses Nein generiert den Mut eines jeden missbrauchten Menschen, der endgültig das toxische Umfeld verlässt. Aber auch eines Forschungsprojektes, welches ein wirksameres Heilmittel in die Entwicklung bringt oder einer neuen Form der Pädagogik, die den Umgang mit jungen Menschen wertvoller gestalten möchte.

Genau dieses Nein rührte sich auch wieder in mir. Und das sagte mir klar und deutlich: Ich finde es schrecklich, wenn Kinder leiden müssen. Ich finde es schrecklich, wenn Eltern eine derart furchtbare Tragödie, wie den Tod des eigenen Kindes, erleben müssen. Und ich fände es schrecklich, wenn ich es nicht schrecklich fände.

Denn schließlich sind Kinder die verletzbarsten Glieder in der Generationenkette. Sie sind unser aller Zukunft. Oder wie der meisterhafte Khalil Gibran* einst schrieb: „Eure Kinder sind Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.“

Und die meisten von uns fühlen das, auch wenn sie es nicht benennen könnten und es vielleicht nur als genetische Codierung abtun. Doch selbst als diese sollten wir es nicht klein reden, dient sie doch dem Überleben der eigenen Spezies.

Doch was ist nun mit dem Frieden, der aus der Akzeptanz der Realität heraus entsteht? Wie soll das mit dem großen Nein einhergehen? Muss ich das eine dem anderen zuliebe opfern? Ganz im Gegenteil.

Meiner Meinung nach ist es damit wie mit so vielem im Leben. Alles zu seiner Zeit und beides darf sich ergänzen.

Will man sich auf eine einzige Position festlegen, schränkt es die Wahrnehmung ein.

Immer im inneren Raum des Friedens zu sein und nicht intervenieren zu wollen, hat als Schattenaspekt ungesunde Passivität, Erduldung dysfunktionaler und krankmachender Strukturen und menschlich/persönliche als auch gesellschaftliche Stagnation zu Folge.

Ständig im rebellischen, aktiven und voranschreitendem Modus des Widerstandes zu agieren, höhlt aus, lässt an Erdung verlieren und endet in kompletter Erschöpfung und Verwirrung.

Auf einer einzigen Position zu beharren verwechseln wir häufig mit Klarheit.

Doch tiefgreifende, am Leben orientierte Klarheit kennt das sowohl als auch.

Eine Seite von uns darf weise genug sein, um zu akzeptieren, eine andere darf lebendig genug sein um zu rebellieren. Manchmal abwechselnd oder eben auch gleichzeitig. Das Spektrum des Wahrhaftigen ist tatsächlich so weit.

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