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In dir blieb es Herbst

EIN GEDICHT FÜR MAMA

Aquarell Blätter Jennifer Otte Herbst Blätter
Jenny Otte
Jenny Otte Kolumne 'ZWISCHEN TRAUER UND LEBEN'
5-2020

Wenn die Blätter im Herbst fallen,
denk‘ ich sofort an dich.
Und daran, was Oma immer sagte.

Auf deinem Grabstein ist ein Baum.
Ein Baum, der seine Blätter verliert.
Ich denke oft an Omas Worte.
Und daran, dass du wie der Baum warst
Und langsam deine Blätter verlorst.

Im Herbst geboren –
hast du den Frühling nicht ausgehalten mit all seiner Pracht.
Denn in dir drin blieb es immer Herbst.

Auch als die Knospen sprossen.
In dir blieb es Herbst.

Auch als die Vögel sangen.
In dir blieb es Herbst.

Auch als das Grün zurückkam.
In dir blieb es Herbst.

Auch als der Schnee zu Tau wurde.
In dir blieb es Herbst.

Auch als die Sonne an Kraft gewann.
In dir blieb es Herbst.

Und als du von uns gingst,
blieb es in mir Herbst.

Bis ich eines Tages feststellte:
Der Herbst ist nicht nur kalt und nass und dunkel.
Der Herbst ist ziemlich bunt.


Ich habe mich immer gefragt, warum meine Mutter sich im Mai das Leben nahm.
Heute weiß ich, dass sich Suizide – entgegen der landläufigen Meinung – in den Monaten Mai und Juni häufen. Warum genau das so ist, ist noch nicht fundiert erforscht, auch wenn es viele Theorien gibt.
Ich werde nie eine Antwort von meiner Mutter bekommen, aber manchmal frage ich mich, ob sie den Frühling und aufkeimenden Sommer schlicht nicht ausgehalten hat. Ob das sprießende Leben um sie herum und die Freude, die in der Luft lag, so gegensätzlich zu ihrem eigenen Gemütszustand waren, dass der Kontrast zu groß wurde und ihr ihr eigenes Elend einmal mehr vor Augen führte.
In ihr blieb es Herbst, während es für alle anderen Frühling wurde.
Auch meine Trauer hat sich lange wie Herbst angefühlt, zumindest wie der Herbst, an den ich nach ihrem Tod dachte. Kalt, nass, verregnet, dunkel, schwer. Doch je länger mein Trauerweg wurde, desto mehr Schätze fand ich auch darin und desto bewusster wurde mir, dass der Herbst und damit auch meine Trauer mit der Zeit mehr zu bieten hatten als Schwere, Dunkelheit und Kälte.
Mama, wenn der Herbst kommt, fühle ich mich dir noch ein Stück näher, auch wenn dein Herbst nicht meiner ist, denn meiner ist bunt.

Kolumne 'ZWISCHEN TRAUER UND LEBEN'
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