Jennifer Otte

Die Frau im roten Mantel

Eine Geschichte

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8 min Lesezeit

Ich sah sie zum ersten Mal an einem Sonntag, als ich meine Frau besuchte. Sie fiel mir sofort auf in ihrem roten Trenchcoat mit den großen, runden, schwarzen Knöpfen, die wie riesige, glanzlose Augen aussahen. An der Taille war ihr Mantel mit einem Gürtel geschnürt. Das hellblonde, beinahe weiße Haar reichte ihr bis zur Hüfte und wippte hin und her, während sie leichtfüßig den Weg entlangging. Schwebte, sollte ich sagen.

Von diesem Tag an sah ich sie jeden Sonntag, wenn ich zu meiner Frau fuhr.

Sie war schon da, wenn ich kam und wenn ich zu meinem Auto zurückging, konnte ich das leuchtende Rot ihres Mantels von Weitem noch hinter dem Zaun und durch die Blätter der Hecke schimmern sehen.

Eines Tages rief mich meine Tochter an und fragte, ob ich am Sonntag zum Kaffeetrinken kommen wollte. Unsere Enkelin feierte zweiten Geburtstag. Ich willigte ein und so besuchte ich meine Frau ausnahmsweise schon am Donnerstag. Mindestens einmal pro Woche, so hatte ich ihr es versprochen.

Auch an diesem Tag sah ich den roten Trenchcoat und die Frau, die darin steckte, über das Gelände gleiten. Die Sonne schien auf ihr Haar, das die Strahlen reflektierte, wie die glatte Oberfläche eines Sees es tut.

Ich ging ihr nie nach oder sprach sie an, doch ich folgte ihr mit den Blicken, wann immer ich konnte.

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Jennifer Otte

Von diesem Tag an wechselte ich die Wochentage meines Besuchs. Mal kam ich am Montag, mal am Donnerstag und wenn ich früher Feierabend machen konnte, fuhr ich auch mal am Dienstag oder Freitag zu meiner Frau.

Die junge Frau im roten Mantel war immer schon da und sie war auch noch da, wenn ich ging.

Was tat sie hier? Besuchte sie jemanden genau wie ich?

Ich sah sie nie stehenbleiben. Sie ging einfach. Weiter und immer weiter. Sie beachtete niemanden und niemand beachtete sie. Nur ich sah sie und sah sie auch noch in Gedanken, wenn ich nach Hause fuhr. So als hätte sich ihr Anblick in mein Gehirn eingebrannt.

Sie hatte etwas an sich, doch was es war, konnte ich nicht sagen.

Dann verlängerte ich meine Besuche. Ich kaufte Blumen im nahegelegenen Blumenladen, nahm längere, immer andere Wege, um sie meiner Frau zu bringen. Ich blieb lange bei ihr, nahm mir manchmal ein Buch mit, das ich auf einer Bank las, bis es dämmerte.

Sie war immer da und sie blieb dort. So als würde sie diesen Ort nie verlassen. Doch meist sah ich sie nur in der Ferne und auch wenn ich sie nicht sah, spürte ich, dass sie sich auf dem Gelände aufhielt. Sie schien für diesen Ort zu leben oder dieser Ort lebte für sie.

Einmal sah ich sie ganz in der Nähe. Ich sprach mir Mut zu und ging immer weiter. Nur eine Biegung trennte uns noch voneinander.

Sollte ich sie ansprechen? Und wenn ja, was sollte ich sagen?

Tausend Fragen wirbelten durch meinen Kopf, als ich um die Ecke bog. Doch als ich den Blick hob und den Mund öffnete in der Hoffnung, mir würde etwas Schlaues einfallen, was ich sagen konnte, war sie verschwunden. Ich drehte mich um meine eigene Achse und sah ihren Mantel weiter unten auf dem Weg, auf dem ich gekommen war.

Ich runzelte die Stirn. War sie an mir vorbeigegangen, ohne dass ich es gemerkt hatte? Sie war doch gerade noch ein paar Schritte vor mir gewesen. War sie mir ausgewichen? Hatte ich sie verschreckt?

Von diesem Tag an näherte ich mich ihr nicht mehr. Doch ich sah sie. Ich sah sie immer.

Ein paar Wochen später traf ich einen meiner Nachbarn, als ich gerade zurück zu meinem Wagen gehen wollte. Irgendwo in meinem Kopf ploppte eine Erinnerung auf. Er hatte mir gesagt, dass er hier arbeitete. Zwar nur ein paar Stunden die Woche, aber immerhin. Er musste sich hier auskennen.

Ich konnte nicht anders. Ich musste ihn fragen.

In meinem Gehirn suchte ich nach seinem Namen. Ich wusste, dass er dort irgendwo war. In letzter Zeit vergaß ich solche Dinge leicht. Irgendetwas mit „T“. Tim, Theodor, nein Tom. Ja, Tom. So hieß er.

Ich blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen und rief seinen Namen. Ich versuchte, meine Worte so ruhig und banal wie möglich klingen zu lassen. Er wandte mir den Kopf zu und winkte.

So beiläufig wie möglich erkundigte ich mich nach der Frau im roten Mantel, fragte, ob sie auch hier arbeitete.

Er sah mich verständnislos an, als wüsste er nicht, von wem ich sprach. Welche Frau ich meinte, wollte er wissen.

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Jennifer Otte

Ich beschrieb sie ihm, so gut ich konnte. Lange, blonde Haare, roter Mantel. Groß. Eigentlich hätte er sie kaum übersehen können.

Er sah mich unverwandt an und verlagerte das Gewicht auf ein Bein. Die Sonne blendete ihn, sodass sich seine Augen zu Schlitzen verengten.

Dann zuckte er kaum merklich mit den Achseln. Er hatte sie nicht gesehen, wollte aber wissen, warum ich fragte. Das war die Frage gewesen, vor der ich mich gefürchtet hatte. Vielleicht, weil ich selbst nicht wusste, warum sie mich nicht losließ.

Ich zuckte ebenfalls mit den Achseln. Nur so. Nur so hatte ich gefragt. Als er mich immer noch stirnrunzelnd ansah und meine Antwort nicht zu schlucken schien, stammelte ich noch etwas davon, dass sie jemandem ähnlichsähe, den ich kannte.

Roter Mantel. Blonde Haare. So jemand wäre ihm aufgefallen, versicherte er mir und zwinkerte mir zu.

Ich zwang mich zu einem Lächeln.

Ich nickte ihm zu und ging einen Schritt rückwärts, tat so, als wäre es nur ein nebensächliches Gespräch gewesen. Als wäre es mir egal, dass er sie nicht kannte, sie nicht einmal gesehen hatte.

Er beteuerte mir, er würde mir Bescheid geben, wenn er sie sehen sollte. Er wandte den Blick nicht von mir ab.

Ich hatte keine Lust auf ein längeres Gespräch mit ihm. Deswegen hob ich die Hand und wandte mich dann um.

Im Gehen verabschiedete ich mich von ihm. Er fasste sich zum Gruß an die Mütze und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.

Ich wartete bis zum darauffolgenden Sonntag, ehe ich meine Frau erneut besuchte, auch wenn es mich in den Füßen juckte. Doch ich hielt mich zurück. Ich wartete.

Am Sonntag holte ich wie üblich nach dem Mittagessen das Auto aus der Garage und fuhr den üblichen Weg, hielt auf dem üblichen Parkplatz.

Ich war fest entschlossen, die Frau im roten Mantel heute anzusprechen. Noch immer war ich von ihr fasziniert. Sie hatte solch eine Leichtigkeit, die ich seit Jahren nicht gespürt hatte. Ihr Anblick war wie ein Versprechen, eine Erlösung. Sie zog mich auf eine merkwürdige Weise an. Ich schämte mich für den Gedanken.

Im Blumengeschäft besorgte ich einen Strauß mit Blumen, deren Namen ich nicht kannte. Dann trat ich durch das Tor und ging den Kiesweg hinauf. Ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Von der Frau im roten Mantel war nichts zu sehen. War sie ausgerechnet heute nicht da? Nachdem ich eine Woche gewartet hatte…

Ein Teil von mir war enttäuscht, ein anderer erleichtert.

Ich nahm den gleichen Weg wie immer. Zweihundert Meter geradeaus, dann rechts, an der nächsten Biegung links, dann wieder rechts und dann immer geradeaus, bis ich den Namen meiner Frau zu meiner rechten lesen konnte.

Ich nahm eine der grünen Plastikvasen, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein.

„Na, gefallen sie dir?“, fragte ich in die Stille.

Wie immer verharrte ich einige Minuten, ohne etwas zu sagen.

Manchmal vergoss ich ein paar Tränen. Manchmal stand ich nur stumm da. Mit vollem Magen, aber leerem Herzen.

Doch heute war etwas anders. Ein Schauder lief mir über den Rücken.

Ich hörte sie nicht. Viel mehr spürte ich plötzlich ein kribbliges Ziehen im Nacken. So eines, das man hat, wenn man spürt, dass man beobachtet wird.

Langsam drehte ich mich um und dort stand sie.

Keine drei Meter von mir entfernt. Der Mund klappte mir auf. Erst jetzt stellte ich fest, dass ich ihr Gesicht noch nie gesehen hatte.

Sie trug wieder den roten Trenchcoat. Er war bis zum Hals zugeknöpft, obwohl es ein heißer Augusttag war. Ihre Haut war silbrig hell und glatt. Keine Pore war zu sehen, aber auf meine Augen wäre auch kein Verlass mehr gewesen.

„Äh hallo“, stammelte ich und kam mir reichlich dumm vor.

Sie antwortete nicht, setzte sich jedoch in Bewegung und kam auf mich zu. Geräuschlos. Ihr Schritt federnd. Weder Kies noch Gras unter ihren Schuhen machten Geräusche, als sie darauf trat. Mir blieb kaum Zeit, mich darüber zu wundern, denn schon stand sie vor mir. So nah, dass ich, hätte ich meine Hand ausgestreckt, die Knöpfe ihres Trenchcoats hätte berühren könnte.

Der Schweiß brach mir aus. Die Situation war mir unbehaglich. Wie sie ihre grauen Augen auf mich richtete, ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen.

„Ich habe sie hier schon oft gesehen“, stotterte ich.

Sie nickte fast unmerklich.

„Wen besuchen Sie hier?“, fragte ich, als sie nichts sagte.

Sie schwieg.

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Jennifer Otte

„Ich besuche meine Frau“, sagte ich und deutete hinter mich. „Sie liegt seit letztem Dezember hier.“

Wieder nickte sie. Ihr glattes Haar wippte dabei hin und her und trug einen zarten Duft zu mir herüber. Eine Mischung aus Rauch, Erde und etwas anderem, was ich nicht bestimmen konnte.

Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

„Sie hatte einen Schlaganfall“, sagte ich. „Sie fehlt mir sehr, wissen Sie.“

Ihr Blick wurde noch intensiver. Ihre Augen schienen zu glühen. Ich hatte das Gefühl, sie bohrten sich in mich. Durch mich durch. Als könnte sie durch mich hindurchsehen wie durch eine gläserne Figur.

Auf einmal trat sie noch einen Schritt näher. Ich sog erschrocken die Luft ein. Sie stand jetzt so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

„Sie wird dir nicht mehr lange fehlen“, sagte sie plötzlich. Ihre Stimme war tief und klangvoll.

„Was soll das heißen?“, fragte ich.

Da schnipste sie plötzlich mit den Fingern der rechten Hand. Zwischen ihren Fingerkuppen loderte eine kleine, orangerote Flamme. Mit der linken Hand griff sie in ihre Jackentasche und holte zwei kleine, vertrocknete Blätter hervor. Sie waren an den Rändern leicht gezackt und sahen beinahe wie kleine Fächer oder Mäntel aus.

Sie hielt die trockenen Blätter in die Flamme und zerrieb sie mit den Fingern. Es knisterte und rauchte und ein warmer, erdig-süßer Duft wehte zu mir herüber.

Die Augen immer noch auf mich gerichtet, sagte sie: „Es wird ganz schnell gehen.“

„Was wird schnell gehen?“, wollte ich fragen, doch bevor ich etwas sagen konnte, presste sie ihre weichen Lippen auf meine. Ich wollte mich wehren, aber da umfing mich schon eine plötzliche Müdigkeit. Meine Glieder fühlten sich taub und schwer an und machten es mir unmöglich, mich zu bewegen.

So schnell, wie der Kuss kam, so schnell löste sie sich auch wieder von mir.

In meinem Kopf tobten tausend Fragen.

„Wer bist du?“, fragte ich.

Meine Stimme war heiser und ungewöhnlich leise, als würde ich sie selbst aus weiter Ferne hören.

„Was glaubst du?“, fragte sie zurück.

Ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen.

Die Antwort formte sich in meinem Kopf, während ich zusah, mir selbst dabei zusah, wie ich mir an die Brust fasste und neben dem Grabstein meiner Frau vornüber auf die Wiese kippte. Der Teil von mir, der die Antwort kannte, hatte keinen Mund mehr.

„Ich kenne dich“, dachte ich, während es mich schon hinfortzog.

Von Weitem sah ich sie. Ihr roter Mantel schien zu lodern wie unlängst die kleinen Flammen zwischen ihren Fingern.

Ich sah sie nicken.

Sie winkte mir zu.

Dann war ich fort.

Mein Name ist Jennifer Otte.
Ich bin 24 Jahre alt. Meine Mutter nahm sich das Leben, als ich sechs Jahre alt war. Knapp zehn Jahre später starb mein Vater infolge einer Krebserkrankung im Hospiz. Ich rede offen über meine Erfahrungen mit Trauer und Verlust, sowohl auf Social Media als auch in meinem Podcast „Vom Lieben und Loslassen“.
Der Podcast ist mein Herzensprojekt. Dort spreche ich allein, aber auch mit Interviewgästen über den Tod, Trauer und das Loslassen. Ich möchte damit einen Ort schaffen, an dem wir uns gemeinsam erinnern, lachen und weinen und unsere Trauer teilen können.

Momentan studiere ich noch Germanistik, Französisch und Bildungswissenschaften. Daneben biete ich nach und nach Trauerbegleitung in verschiedenen Formen an (Onlinekurs, Gruppen, Einzelbegleitung (momentan alles online)).

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