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Ein Leben, ein Tod – für jeden von uns

Eines Tages werden wir selbst Expertinnen und Experten sein. Werden wissen, wie er sich anfühlt, wenn er langsam näher heranschleicht, sanft, fast wie ein Freund, oder sich mit einem Mal auf uns wirft voller Kraft und Gewalt. Wissen um seinen Geruch: Kalter Schweiß? Der Duft nach Apfelkuchen und Heimkehr? Wir erkennen womöglich sogar seinen Geschmack: Die metallene Schwere von Blut? Oder eine warme Süße, die sich langsam in unserem Mund ausbreitet? Dann den ganzen Körper mit Wärme durchströmt? Sehen seine Finsternis – oder sein helles Leuchten.

Verspüren überdeutlich mit unserem Körper und Geist, mit unserer ganzen Seele, den nahenden Tod als ein Uns-gefangen-Nehmen, ein Uns-in-Ketten-Werfen. Doch dann irgendwann kommt es, das Sprengen aller Ketten. Das Ende menschlichen Seins. Ein Hinübergleiten in eine andere Dimension. Mehr noch: Ein Hinauf in diese unendliche, überirdische Freiheit des bestirnten Firmaments. Fernab von allen Schmerzen, fernab jeder Körperlichkeit.

Es gibt natürliche Tode, die zu akzeptieren uns leichter fallen, vor allem dann, wenn es vom Lebensalter her an der Zeit scheint „Heim zu gehen“. Immer wieder ereignen sie sich, diese Tode, die von einem Menschen und seinen Nächsten als Erlösung empfunden werden. Als ein natürliches Loslassen allen Irdischen. Wo das Fenster geöffnet wird, damit sie aufsteigen kann in den Himmel, die Seele.

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kaboompics grabowska

Es gibt so viele unterschiedliche Tode, so viele verschiedene Weisen, mit Tod und Trauer umzugehen. Unsere Vorstellungen vom Jenseits, der Umstand, ob wir gläubig sind oder nicht, die Kultur in der wir leben – all das prägt unseren Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Es gibt kultur- und religionsspezifische Formen des Trauerns, die uns helfen können oder die „üblich sind“, aber nicht so recht zu uns und dem Verstorbenen zu passen scheinen. Deswegen bleibt es für jeden von uns eine Herausforderung, seinen individuellen Weg zu finden. Dabei können gläubige oder spirituelle Menschen auf Kraftquellen außerhalb ihres Selbst zurückgreifen.

Manche Menschen schieben ihren eigenen Tod von sich fort, so weit wie irgend möglich. Wollen nicht an ihn denken. „Lasst mich meine Augen davor verschließen, denn wenn ich ihn nicht sehe, nicht an ihn denke, existiert er nicht.“ Genauso, wie es Menschen gibt, die sich von Jugend an auf ganz eigene Art mit ihm verbunden fühlen – ohne jeden Schrecken. Und jene, die ihn herbeiführen von eigener Hand. Weil sie alt sind, des Lebens müde, oder unheilbar krank. Oder weil Verzweiflung und Depressionen sie schon so lange im Würgegriff halten, dass sie auf eben diese letzte Tat als einzig mögliches Entkommen verfallen.

Es existieren Tabus in unserer Sprache und Kultur, die es erschweren, über bestimmte Themen, darunter den Tod, zu sprechen oder zu schreiben. Tabus, die so mächtig sind, dass sie eine Mauer zwischen unserem Denken und den möglichen Worten aufbauen. Eine Mauer, die wächst. Immer höher wird, wie ein Bollwerk unserer Sprachlosigkeit. Eine Mauer des Nicht-Sprechen-Könnens oder -Wollens, die uns trennt von denen, die bereits einen nahen Menschen verloren haben – oder gar mehr als einen in kurzer Zeit. Solche Verluste hinterlassen uns sprachlos, denn sie sprengen die Grenzen des Alltäglichen. Der Dialog verstummt.

Über so vielem liegt ein Tabu. Ein leises Flüstern namens „Sprich-nicht-davon. Rühr ihn nicht an, diesen Schmerz“. Nicht oder nicht mehr über etwas zu sprechen beziehungsweise zu schreiben, bedeutet, es dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Und eben das wird Menschen und ihren Schicksalen nicht gerecht.

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Deswegen denke ich, dass es wichtig ist, für jeden Schreibenden wie für jeden einzelnen Mitmenschen, dieses Bollwerk anzugreifen. Nach Worten zu tasten, die passen könnten, nach Worten zu suchen und sie laut zu äußern, damit wir das Tabu gemeinsam sprengen. Sodass wir Menschen – Sterbende wie Lebende, Trauernde wie Nicht-Trauernde – in Verbindung zueinander treten können. Dass wir Sterbende und Trauernde spüren lassen: Ihr seid nicht allein. Doch das kostet uns Überwindung. Denn zum einen sind wir ungeübt, über Tabus wie Sterben, Tod und Trauer oder gar über Suizid zu sprechen. Zum anderen erinnert uns ein Darüber-Sprechen an unsere eigene Vergänglichkeit, die wir zumeist lieber verdrängen. Uns ins pralle Leben stürzen, solange das möglich ist, und uns von Trauer, Not und Elend fernhalten, als seien diese ansteckend.

Es gibt Menschen, die ihn wagen, den Tabubruch. Die zu sprechen versuchen. Die ihre Hand als Stütze reichen, ihren Körper für wärmende Umarmungen freigeben. Nennen wir sie unsere wahren Freunde, die wir oftmals erst in Krisenzeiten erkennen. Und dann gibt es noch mehr Menschen, die sich Kraft ihrer Berufung oder ihres Berufes Sterbenden und Trauernden zur Seite stellen: weltliche und kirchliche Seelsorger, Krankenschwestern und Pfleger, nahbare Mediziner und Therapeuten. Ehrenamtliche. Mitfühlende Hospizmitarbeiter. Sterbebegleiter. Bestatter, Trauerredner. Nachbarn. Die Verkäuferin im Supermarkt, vor der wir unsere Tränen nicht verbergen konnten.

Doch da sind auch noch all diese unnötigen Tode, Tode vor ihrer eigentlichen Zeit. Sei es durch Naturkatastrophen, schwere Unfälle, durch einen unglücklichen Zufall. Es gibt sie, zumeist fern von uns: kriegerische, verbrecherische und terroristische Tode von Menschenhand, Tode durch Folter – unnötige Tode, allen Sinns entbehrend. Die uns plötzlich ganz nah kommen können, unsere Welt ins Wanken bringen. Die uns unserer Worte berauben, weil um sie eine Aura des Furchtbaren, des Unerträglichen, des Unsagbaren liegt. Da ist es wieder, das Bollwerk der Sprachlosigkeit, noch größer und unerbittlicher als sonst.

Vor unserem eigenen Tod können wir nicht davonlaufen. Wir tragen ihn schon ab unserer Geburt in uns. Für Menschen früherer Jahrhunderte, die von hoher Säuglingssterblichkeit betroffen waren, oder für gegenwärtig von Hunger und Krieg bedrohte Menschen eine Aussage, die in ihrem Realismus nicht mehr oder weniger ist als eine Banalität.

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Rilke beschrieb diese realistische Einstellung zum Tod in seinen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ aus dem Jahr 1910 so eindringlich, dass ich es seit meiner Schulzeit nicht mehr vergessen habe: „Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.“1

Doch obwohl unser Leben immer an sein eigenes Ende geknüpft bleibt, ist es für viele von uns essentiell, eben das zu verdrängen. Denn es herrscht Angst vor der eigenen Endlichkeit, Angst vor dem Sterben als Prozess. Angst vor Schmerz. Aber auch die Angst, geliebte Menschen allein zurücklassen zu müssen.

Will man über den Tod schreiben, so darf das Leben nicht vergessen werden: All dies intensive Riechen, Schmecken, Fühlen, Berühren, Streicheln, Lieben, Hassen, Wütend-Sein, Sehnen, Denken, Sich-verloren-Fühlen, Neiden, Reden, Weinen, Feiern, Lachen, Träumen, das unsere Tage anfüllt.

Sie unvergleichlich werden lässt – denn es sind die einzigartigen Tage unseres Lebens.

Wenn man über den Tod schreiben will, so beginnt die Geschichte stets mit unserer Geburt, noch früher sogar: Mit dem Wunder unserer Zeugung. Sei es im Mutterleib oder ganz modern in der Petrischale. Was aus weiblichem Ei und männlichem Samen entsteht, ist jedes Mal ein Wunder. Häufig verbunden mit der Liebe zweier Menschen zueinander und zum Leben. Und dann tritt eine neue Seele in unsere Welt, zeitgleich, wenn eine andere sie verlässt.

Ein einzigartiger Mensch ist geboren. Der sein Universum schon in sich trägt. Genauso, wie auch seine eigene Endlichkeit.

Über die Kraft von Liebe und Tod heißt es in der Bibel: „Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken.“2

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Es gibt etwas, was stärker ist als jeder Tod: die Liebe und die Erinnerung. In unserer Kultur steht der Tod für Verlust und Abschiednehmen, für eine Phase der Trauer und des unendlichen Schmerzes in unserem Leben. Der australische Therapeut David Denborough, der mit dem narrativen Ansatz arbeitet, bringt in seiner Therapie den Hinterbliebenen nahe, sich auf eine andere Weise mit dem Verlust eines geliebten Menschen auseinander zusetzen: Man soll dem Menschen, den man verloren hat, „wieder guten Tag sagen“, ihn im eigenen Leben willkommen heißen.3 Eine Vorstellung, diametral derjenigen entgegengesetzt, die in unserer Kultur am stärksten verbreitet ist. Aber auch eine Vorstellung, die wir in unser Denken integrieren könnten, was uns vielfältige neue Chancen der Trauerbewältigung schenken kann. Sabine, 52 Jahre alt, mit 38 plötzlich verwitwet, schildert dieses ,Willkommen heißen des Verstorbenen‘ als einen Akt der Versöhnung, der ihr zum Ende ihres Trauerprozesses gelang: „Die Trauer ist wie ein riesiger Felsbrocken, der mitten auf dem Weg liegt. Man fängt vorsichtig an, ein bisschen was von diesem Brocken abzutragen. Irgendwann ist er so klein, dass man ihn aufheben und in die Tasche stecken kann. Ich finde das ein total schönes Bild. Das heißt nicht, dass der Mensch ganz verschwunden ist, er bleibt immer ein Teil von mir.“4

Im Physikunterricht der fünften Klasse lernte ich, dass Energie nicht verschwindet, sondern in andere Formen umgewandelt wird. So erscheint es mir heute im Alter von 45 Jahren logisch, dass ein Mensch, der liebend und mitmenschlich durch diese Welt gegangen ist, ein Echo seiner Liebe hinterlässt. Ein Echo, das weiterhallt, auch nach seinem Tod, und das anderes auf dieser Welt erneut in Schwingung versetzen kann. „Denn Liebe ist stark wie der Tod.“ – Nichts ist verloren.

Letztlich ist das Thema Tod für die Lebenden unter uns ein bedeutenderes Thema als für die, die ihn bereits gestorben sind. Denn wir, die da leben, sind die Fragenden, während die Verstorbenen ihre eigene Gewissheit haben. Ihre Antwort kennen. Vielleicht werden sie uns diese eines fernen Tages zuflüstern. Mit dem Rauschen des Windes. Oder dem Rascheln des Herbstlaubs. Vielleicht werden sie so leise raunen, dass es nicht zu hören ist, sich aber anfühlt wie ein sanftes Streicheln unserer Haut. Das uns beruhigt und unserem Herzen Frieden schenkt.

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