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In der Buchrubrik Beginnen wir am Ende nimmt Tom Schröpfer Literatur als Startpunkt für die Auseinandersetzung mit den Themen Abschied, Sterben, Tod und Trauer.

Was kann Literatur? Wo hilft sie beim Abschiednehmen? Und welche Themen lassen sich mit ihr verhandeln?

Wie begreifen Kinder den Tod?

In meinem letzten Beitrag schrieb ich über Resonanzerfahrungen durch Leseerlebnisse. Wie Literatur etwas in uns zum klingen bringen kann, wenn wir uns unverstanden fühlen, oder mal allein sein wollen. Wie wir Bestätigung durch Bücher erfahren können, wenn wir uns auf sie einlassen und ihre stille Einladung annehmen. Nicht immer spricht der Text dann auch zu uns. Aber manchmal halten fiktive Geschichten Antworten auf Fragen bereit, die wir selbst nicht formulieren konnten. So ging es mir neulich, als ich Juli Zehs Roman Neujahr las, der mir ein Gespür dafür gab, wie Kinder den Tod wahrnehmen.

Durch die Augen eines Kindes

Eigentlich geht es in Neujahr nicht per se um den Tod. Der Roman erzählt die Geschichte von Henning, der als Familienvater mit seiner Partnerin und seinen beiden Kindern Urlaub auf Lanzarote macht. Am Neujahrsmorgen unternimmt er, von Angstattacken und Unzulänglichkeitsgefühlen bezüglich seiner Rollen als Vater und Ehemann getrieben und geplagt, eine Radtour. Sie führt ihn zu einem Haus, das ihm seltsam bekannt vorkommt. Und tatsächlich war er schon einmal dort, was ihm beim Anblick der Räumlichkeiten klar wird. Hier wechselt der Roman in Hennings Erinnerung und lässt uns die Geschehnisse durch die Augen des kleinen, ca. sechs Jahre alten, Jungen erleben. Im Urlaub auf Lanzarote ist der junge Henning plötzlich damit konfrontiert, sich um sich selbst und seine zweijährige Schwester Luna kümmern zu müssen, als die Eltern eines Morgens nicht mehr da sind. Erzählt wird hier zwar nicht im Ich, dennoch ist zu jedem Zeitpunkt klar, dass wir dem Verstand und der Wahrnehmung Hennings folgen. Juli Zeh gelingt es, die Erzählperspektive sehr dicht an den Jungen zu haften, indem sie einfacheres Vokabular und simplere Syntax als zuvor benutzt, dabei aber nicht so unterkomplex wird, dass der Roman zur Kinderliteratur wird. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie der sechsjährige Junge die Welt sieht. Wir folgen seiner Logik, seinem Pragmatismus und seinen Emotionen. Er ist verstört und tatkräftig zugleich. Wo sind die Eltern? Warum weint Luna? Müssen wir was essen? Wie denn?

Hennings Gedanken und Taten sind in diesem Teil des Romans wie Pfützenspringen. Während er an die Sterne und das Weltall denkt, schenkt er aus einer Karaffe Wasser in ein Glas, alles geht schief und hat in seinem Kopf doch eine stringente Logik. Die Dinge sind miteinander verknüpft, alles muss ja zusammenhängen, und so kommt er in seiner kindlichen Logik irgendwann auf die Frage, ob Mama und Papa vielleicht tot sein könnten.

Henning denkt bei dieser Frage zunächst an eigene Erlebnisse. Er hat mit seinem Papa neulich Kaninchenknochen im Garten gefunden und erklärt bekommen, wie die einzelnen Knochen heißen. Außerdem weiß er, dass Dinosaurier tot sind. Plattgefahrene Eidechsen und tote Vögel kennt er auch. Er fühlt sich als Fachmann zum Thema Tod und als Fachmann weiß er, dass es tote Eltern nicht gibt, weil Eltern sich um Kinder kümmern. So einfach ist das. Sie könnten vorzeitig abgereist sein, weil Luna manchmal nervt und Henning nicht immer alles hinbekommt, was man ihm sagt. Aber tot? Das geht ja gar nicht. So sind seine Gedanken und seine Logik.

Diese Passage hat mich deshalb so erwischt, weil ich in ihr einige Reaktionsmuster wiederentdeckt habe, die mir Kinder im Zusammenhang mit Bestattungen spiegelten.

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Neujahr: Roman von Juli Zeh, btb

Einladungen zum Gestalten

Wenn Kinder mit dem Tod konfrontiert sind, ist von uns Bestatter*innen besonderes Fingerspitzengefühl gefordert. Ohnehin versuchen wir mit den An- und Zugehörigen immer so zu planen, dass der Tod der Verstorbenen nicht nur formell abgewickelt, sondern auch begriffen und verstanden werden kann, soweit es eben geht. Doch wenn Kinder involviert sind, braucht es andere Rituale. Eine Kollegin erzählte mir einmal, dass der junge Sohn einer Angehörigen zwei Wochen nach der Bestattung seines früh verstorbenen Vaters sagte “Jetzt kann Papa aber auch wieder aufhören mit dem tot sein.” Dem Jungen war die Endgültigkeit der Geschehnisse nicht bewusst, so wie Henning logisch ausschließt, dass seine Eltern etwas mit dem Tod zu tun haben könnten. In der Entwicklungspsychologie wird davon ausgegangen, dass ein kognitives Erfassen des Todes und seiner Endgültigkeit bis ca. ins Vorschulalter von Kindern nicht geleistet werden kann. Dieses Erfassen setzt erst ab etwa sechs Jahren ein, was natürlich von Person zu Person variiert. Dennoch ist ein gewisses Begreifen des Themas schon vorher möglich, nur sehr viel mehr über Erfahrungen, Aktionen und Emotionen, als über den Verstand. Wenn also Kinder zu unserer Begleitung gehören, müssen wir schauen, wie wir Aktionen gestalten, die ihnen niedrigschwellige Einladungen aussprechen mitzumachen, wenn sie wollen. Und meistens wollen sie.

Aktiv und neugierig

Häufig genügt es, der natürlichen Neugier von Kindern angemessen nachzukommen. Bis heute fasziniert mich die Direktheit einer Siebenjährigen, die zunächst einmal den Sarg für ihren Opa testen wollte, als wir bei ihr zu Hause ankamen. Als sie uns sah, war sie zunächst skeptisch und fragte, ob wir ihn nun einfach mitnehmen würden. Wir erklärten, dass wir ihn gemeinsam mit ihr und ihrer Familie in den Sarg betten und dann überführen würden und fragten, ob sie den Sarg vorab einmal von innen sehen möchte. “Ja!” und ehe wir uns versahen, stand sie im Sarg, legte sich kurz darauf hinein und deckte sich zu. Sie blieb ganz ruhig, als wir mit ihrer Mutter ins Nebenzimmer gingen, wo der Verstorbene lag. Wenig später kam das Mädchen dazu und meinte “Der Sarg ist gut für Opa.”, woraufhin wir weitermachen konnten. Beim Hinaustragen wollte sie lieber nicht dabei sein. Für sie war klar, dass sie in ihrem Zimmer dem Opa ein Bild malen musste, dass später noch zu ihm gelegt werden sollte. Sie meinte, das würde ihm bestimmt helfen.

Malen, bekleben, etwas mitgeben. Solche Aktionen kommen in Begleitungen mit Kindern (aber nicht nur dort) immer wieder vor. Es sind einfache Möglichkeiten Selbstwirksamkeit in Situationen zu erfahren, die eigentlich unverständlich sind. Solche Dinge befreien von der Ohnmacht, die der Tod mit sich führt. Wer einen Abschied gestaltet, erleidet ihn nicht nur. Und kann diese Erfahrung nicht früh genug gemacht werden?

Dass Kinder auf diese Weise emotional etwas begreifen, oder verarbeiten, liegt für mich auf der Hand. Dennoch bleibt das Besprechen und Zeigen nicht aus. Nie werde ich vergessen, wie mir einmal eine junge Mutter mit ihren drei Töchtern gegenüber saß, sieben, sechs und vier Jahre alt. Die Familie hatte den Sarg für die Verstorbene zuvor zwei Tage zu Hause gehabt und ihn von innen und außen gestaltet. Die Kinder sagten selbst, dass der Sarg für ihre Oma sei, weil sie nun tot ist. Als es aber um die Einäscherung und die Tatsache ging, dass der Sarg in den Ofen kommt, fragte die Jüngste “Hä?, gibt es dann Oma-Kuchen?”

Mit einer Bonbon-Metapher und vorbereiteten Bildern aus dem Krematorium, konnte ich dem Mädchen in etwa vermitteln, worum es bei diesem Prozess geht und was dabei geschieht. Dennoch zeigt sich an diesem Beispiel, wo die Grenzen des emotionalen Begreifens liegen.

An Hennings Perspektive hat mich außerdem berührt, dass er den Verlust und die ungeklärte Situation sofort auf sich bezieht (vielleicht sind die Eltern abgereist, weil Henning und Luna nerven, denn normalerweise kümmern sich Eltern ja). Um dem entgegenzuwirken und keine falschen Gedankenspiralen in Gang zu setzen, kann es hilfreich sein, Kinder bei Abschiedszeremonien unspektakulär Teil der Gemeinschaft sein zu lassen. So habe ich es einmal bei einer Abschiedsfeier für eine junge Frau erlebt. Zunächst verlief die Feier, wie es viele kennen: Eine Rede wurde gehalten, unterbrochen von einigen Musikstücken, der Verstorbenen wurde gedacht. Im Anschluss aber, wurden die Stühle verrückt, es wurde Hintergrundmusik gespielt und es standen Farbsets neben dem Sarg bereit. Alle die wollten, konnten den Sarg nun noch gestalten. Die Frauen des Fußballvereins der Verstorbenen, setzten sich neben den Sarg und tranken gemeinsam und gesellig auf ihr verstorbenes Mitglied. Die vierjährige Tochter der Verstorbenen setzte sich daneben und war Teil der Runde in der zwischen Anekdoten und Schweigen von lachen zu weinen und zurück gewechselt wurde. Mittendrin ging sie an den Sarg, nahm sich einen Stift und malte ca. zwanzig Minuten versunken in die Aktion großflächig auf dem Holz. Danach setzte sie sich wieder zu den Frauen, ehe sie vor die Tür ging, um mit den anderen Kindern zu spielen.

Ich habe die Hoffnung, dass das Mädchen auf diese Weise einen Teil der Verarbeitung ihres Verlusts mit Gemeinschaft und eigenem Handeln verknüpfen wird.

Pfützenspringen und Logik

Den plötzlichen Gedanken an den Tod durch Hennings Perspektive zu betrachten, deckte sich mit meinen Erfahrungen als Bestatter also deshalb, weil mir sowohl das Pfützenspringen als auch die verknüpfende Logik in Begleitungen mit Kindern schon häufiger begegnete. Immer wieder kam es vor, dass Kinder von mir im einen Moment alles über Tod und Trauer wissen wollten, und im nächsten Augenblick vertieft in ihr Spiel waren. Und immer wieder kam es vor, dass Kinder mir aus ihren Erfahrungen heraus Fragen zum Tod stellten, die in ihrer Welt umfassend logisch waren. Mir hat Hennings Blick auf das Thema sehr geholfen: Wenn wir wissen, dass Kinder aus der Summe ihrer Erfahrungen derart logisch auf den Tod schließen, dann lassen wir sie doch von Anfang an zu echten Fachleuten werden und binden sie ein. Stets begleitet mit Erklärungen, ohne sie außen vorzuhalten.

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