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Die Walnuss

ODER ERINNERUNGEN AN UROMA EDITH

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pexels pixabay
Jenny Otte
Jenny Otte Kolumne 'ZWISCHEN TRAUER UND LEBEN'
Q2 2023

Vor mir auf der weißen Tischplatte liegt eine Walnuss. Ich habe sie dorthin gelegt. Ich habe sie mir für diesen Text ausgesucht. Manchmal mache ich das, wenn ich schreiben will, aber nicht weiß, worüber ich schreiben könnte. Dann nehme ich mir irgendeinen Gegenstand. Ich betaste ihn, ich betrachte ihn, ich rieche vielleicht daran, erkunde ihn mit meinen Fingern ganz genau und lasse meine Gedanken um diesen Gegenstand kreisen.

Heute also die Walnuss.

Meine Gedanken kreisen um diese Walnuss vor mir auf dem Tisch und mit der Zeit ziehen sie immer engere Kreise, versuchen, dem Kern näherzukommen.

Diese Nuss ist hart. Ich mag ihre Farbe und die feinen Rillen in der Schale. Wie feine Falten auf alter Haut.

Ich frage mich, ob die Nuss innendrin noch essbar ist oder schon verfault. Schrödingers Walnuss sozusagen.

Walnüsse.

Von allen Nüssen esse ich sie am liebsten, glaube ich. Ich erinnere mich an die Schale mit Nüssen, die bei Uroma Edith immer auf dem Tisch in der Küche stand. Ich liebte Nüsse schon immer und vor allem liebte ich es, bei Oma auf der Sitzbank zu sitzen, Nüsse zu knacken und mir eine nach der anderen in den Mund zu stopfen. Walnüsse. Mandeln, Haselnüsse, Paranüsse liebte ich auch. Doch Paranüsse gab es nur selten und nur wenige. Da musste man bei Uroma immer schnell sein.

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Uroma Edith.

Ich erinnere mich an diese kleine, zarte Frau mit dem dunklen Haar und einer Art Sturheit im Blick, die zu sagen schien „Wenn du wüsstest, was ich schon alles erlebt und überlebt habe“.

Und wahrlich, das hatte sie. Im zweiten Weltkrieg (und auch danach) war sie Krankenschwester gewesen. Was muss sie alles gesehen haben. Unzählige Tote, Schwerverletzte. Ich erinnere mich daran, wie sie mir für ein Schulprojekt einmal von einem Bombenalarm erzählte, den sie miterlebt hatte. Sie war damals 19 Jahre alt gewesen. Sie erzählte von der Panik, von Bunkern und schrecklichen Stunden der Angst. Ihre Stimme war beim Erzählen immer leiser und brüchiger geworden. Das Zittern in ihrer Stimme, während sie immer weitersprach, hatte mir Ehrfurcht eingeflößt vor dieser Frau. Ihre erste Liebe starb im Krieg. Ihre zweite war mein Uropa, der während des Krieges in Gefangenschaft war und mit einem Trauma und einem Schussloch in der Wange nach Hause zurückkehrte.

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pexels anna tara

Uroma. In ihr schlummerte eine Kraft, ein Lebenswille. Ein Lebenswille, der erst zu flackern begann, als mein Uropa nach fast 70 Jahren Ehe starb. Ein Lebenswille, der erst verlosch, als sie 92 war und ihr Enkel, mein Vater, im Alter von 42 Jahren starb. Sie hatte so vieles erlebt und überlebt, aber das konnte sie nicht verstehen. Wie ein Enkel vor seiner Großmutter sterben konnte.

Sie war im Leben wie im Sterben: Entschlossen. Sie hörte einfach auf, zu essen und bald darauf starb sie.

Uroma. Sie war die gute Seele, die Wächterin über unsere Familie. Jeden Sonntagnachmittag kamen alle bei ihr zusammen. Nach ihrem Tod zerstreuten wir uns wie Asche im Wind.

Uroma, du hast alles zusammengehalten. Du fehlst.

Heute steht in unserem Wohnzimmer genau solch eine Schüssel mit Nüssen wie früher bei Uroma Edith. Omas Schüssel war aus Porzellan und der Nussknacker aus Metall. Kühlem, silbrigem Metall. Unserer ist aus Holz. Ich mag ihn gern. Er fühlt sich wärmer an als das Metall, aber er knackt die Nüsse nicht so gut. Ich brauche zu viel Kraft dafür.

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Als Kind konnte ich die richtig harten Nüsse nicht knacken. Oder die runden Haselnüsse, die mir immer aus dem Nussknacker herausrutschten. Dann versuchte Uroma es. Uroma mit ihren schmalen, blassen Händen und den zittrigen Fingern. Auch sie hatte oft nicht genug Kraft.

Einige Nüsse blieben immer ungeknackt. Die ungeknackten Nüsse blieben in der Schüssel liegen. Nie wurden sie weggeworfen, glaube ich. Sie blieben dort. Wochenlang. Monatelang. Vielleicht sogar jahrelang. So kam es mir als Kind zumindest vor … Als Kind kam mir alles lang vor.

Die Walnuss liegt gut in der Hand. Sie ist nicht zu groß. Genau richtig. In meiner Faust fühlt sie sich gut an. Hart. Haltgebend. Hoffnungsspendend.

Die Schüssel mit Walnüssen bei Uroma Edith in der Küche. Sie verheißt Kindheit, Heimat, ein warmes, wohliges Gefühl. Nirgendwo war ich als Kind an den Wochenenden lieber als bei Uroma Edith in der Küche. In meiner Erinnerung kocht sie Haferbrei für Uropa oder Nudelsuppe für uns. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal in der Küche saß, während sie wieder Nudelsuppe kochte. Während ich ihr zusah, versuchte ich, jeden ihrer Handgriffe zu imitieren. Meine Tasse, in der sonst immer Saft war, war mein Topf, so stellte ich es mir vor. Ich beobachtete Uroma und tat es ihr nach. Ich gab Zutaten in meinen Topf (aka meine Tasse), rührte, wenn sie rührte mit meinem Löffel darin herum, würzte, wenn sie würzte und verkostete am Ende stolz meine kalte Suppe, in der die Nudeln natürlich ungekocht und hart waren.

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Uroma. Ich erinnere mich an so viele kleine, zarte Momente. Wie du mir Sticken beigebracht hast. Ich erinnere mich an deinen Kosmetikschrank, auf dem die kleinen Utensilien lagen, die ich nie zu berühren wagte. Wie du mir manchmal einen Tropfen deines Parfums hinter die Ohrläppchen gestrichen hast. Ich erinnere mich an Kreuzworträtsel, die wir gemeinsam gelöst haben. An deine Keksschublade und die Schokolade, die du mir heimlich zugesteckt hast. Ich erinnere mich daran, wie frech du manchmal sein konntest und wie du zu Uropa „Vater“ gesagt hast. An deine Feinstrumpfhosen erinnere ich mich und daran, wie aufmerksam du mir zugehört hast. Ich erinnere mich an deinen Geruch nach Seife und gestärkter Wäsche und Lebenserfahrung. An deine lustigen Geschichten, die du immer und immer wieder voller Freude erzählt hast und daran, wie du mich immer durch die Hintertür ins Haus gelassen hast. Ich erinnere mich an deine Weihnachtsteller mit Süßigkeiten, die wir alle bekommen haben. Egal wie oft wir dir erklärten, dass wir kein Marzipan mochten, jedes Jahr lag wieder welches darauf.

Ich erinnere mich an dich, Uroma. Das beruhigt mich.

Diese Schüssel mit Nüssen bei Uroma Edith. Ich frage mich, wo sie heute, nach ihrem Tod ist. Ich wüsste es gern. Sie hat so viele meiner schönsten Kindheitserinnerungen gesehen. Und wer weiß, was noch.

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