Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar bietet die Gedenkstätte Yad Vashem seit nunmehr acht Jahren mit der „IRemember Wall“ die Möglichkeit zum persönlichen Gedenken. Der eigene Name wird mit dem eines Holocaustopfers zufällig verknüpft, wenn vorhanden auch mit dessen Foto.[1] Vor zwei Jahren wurde ich erstmals darauf aufmerksam. Es war, als hätte meine Seele darauf gewartet. Kein Zögern. Keine Bedenken. Keine Angst. Stattdessen eine Begegnung. Von Mensch zu Mensch. Eine zufällige Berührung durch die Zeit, durch Jahrhunderte. Getrennt und nun vereint. Seitdem gedenke ich Jahr für Jahr am 27. Januar Paulina Weichselbaum mit dem nachfolgenden Gedicht „I Remember“[2], was im Januar 2023 als Teil meines Essays „Der Blinde Fleck“ in der eXperimenta veröffentlicht wurde, und fühle mich mit ihr über die Grenzen der Zeit hinweg verbunden.
I Remember
Paulina Weichselbaum,
geborene Grinbaum,
ich gedenke Deiner.
Du – Mensch wie ich.
Du – Frau wie ich.
Du – Mutter wie ich.
Dein schlagendes, atmendes Herz.
Geboren 1864 in Adelsberg,
Deutsches Reich.
I Remember
Aus einem Foto blickst Du mir entgegen.
Schwarz und weiß Dein Gesicht,
grau die Haut und ernst die Augen.
Dunkel Dein Kleid, das vorn geknöpfte
mit einem Spitzeneinsatz im Ausschnitt,
der sich anschmiegt an Deinen Hals.
Sich anschmiegt an Deine Haut,
unter der Leben pulsiert.
Lehrerin warst Du.
Verbunden mit Deinen Schülern,
Verbunden mit Familie und Freunden.
Verbunden mit der Welt.
I Remember
Paulina, Frau Du,
in der Shoah ermordet
so bezeugt es Dein Enkel
– ermordet –
irgendwann zwischen 1933 bis 1945,
69 bis 81 Jahre alt.
Ermordet in Deinem Heimatland
und dem meinen,
das kein Schutzort mehr war
weder für Dich,
noch für die Deinen.
I Remember
Paulina, Lehrerin und Mutter Du.
Mensch wie ich.
So gedenke ich Deiner,
damit Du nicht vergessen bist
und dieses Leid, dieser Schmerz,
dieses unsägliche Verbrechen
an Dir und den Deinen.
Paulina,
ich gedenke Deiner,
damit sie nicht vergessen sind:
All die Stunden,
in denen Du geatmet hast und gelacht,
in denen Du geliebt hast.
In denen stumme Verzweiflung
in Dir wohnte und solche Angst.
All die Tage, Wochen, Jahre,
in denen Du Kind warst,
Heranwachsende, Mutter und Frau,
Ein Mensch
mit ganz alltäglichen Sorgen und Nöten.
Ein Mensch
mit Sehnsüchten und Träumen.
Paulina Weichselbaum,
ich gedenke Deiner,
spüre Dein schlagendes, atmendes Herz.
Wie lebendig Du bist
für mich
in diesem Moment,
der uns vereint
und unsere Namen.
[1] https://iremember.yadvashem.org/?p=1743 (Zugriff: 29. Januar 2024).
[2] Das Gedicht „I Remember“ wurde im Januar 2023 als Teil meines Essays „Der Blinde Fleck. Ein Text anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar 2023“ in der eXperimenta veröffentlicht auf S. 26. Online verfügbar unter https://experimenta.de/archiv/2023/experimenta-01_23_Januar_ES.pdf (Zugriff: 29. Januar 2024).