Geliebtes Kind - ein Pfad im Wald

“Geliebtes Kind.

Sei nicht traurig, dass ich von dir und euch gegangen bin.
Sei wütend.
Sei wütend auf all die Einschränkungen, die ich dir in meinem Leben auferlegt habe.
Sei wütend auf all die verlorene Zeit, die ich mit Erwartungen verbracht habe. Erwartungen an dich, wie du zu sein hast. Wie du dich zu kleiden hast. Mit wem du dich zu treffen hast und mit wem nicht. Welchen Beruf ich von dir erwartet habe.
Seit wütend mein Kind. Du hast alles Recht dieser und all der anderen Welten dazu. Sei wütend. Mich macht es traurig zu sehen, dass du in scheinbarem Kummer um mich versinkst, weil du glaubst, genau das wird von dir erwartet.

Aber weißt du was mein Kind?

Nichts dergleichen wird von dir erwartet. Rein gar nichts. Erwartungen sind Bretter vor euren menschlichen Köpfen.

Wenn ich doch all das schon zu meinen Lebzeiten erkannt hätte, dann… Aber was rede ich hier. Alles war gut wie es ist. Alles ist gut und weißt du auch wieso? Weil wir einen Pakt geschlossen haben. Damals vor zeitloser Zeit. Wir haben beschlossen uns zu finden, zu halten und zu lieben. Durch alle Zeiten und Räume hindurch. Und genau das haben wir geschafft. Immer und immer wieder.

Ja, ich gebe zu, manchmal haben wir uns nur im Streit und Erwartungsdruck gehalten. Im Erfüllen von Verpflichtungen, Versprechen und all den Dingen, für die mir mehr und mehr die Worte abhanden kommen, weil ich mich immer mehr von eurer Welt entferne. Ich werde dünner, feinstofflicher, hüllenloser.

Es ist Zeit, geliebtes Kind.

Zeit diese eure Welt zu verlassen. Zurückzukehren in die heiligen Hallen des All-Einen. Dort ist mein Platz. Dort ruft es mich hin. Jede meiner feinen und feinsten Lichtfasern zieht es dort hin. Dort ist mein Platz. Dort ist der Raum der Erinnerungen. Dort bereite ich mich vor auf das nächste Abenteuer. Doch zunächst ist meine Aufgabe dort oben.

Doch bevor ich endgültig verschwinde, und ich weiß, dass du das fühlen kannst, will ich dir noch diese Botschaft mitgeben: Vergiss all die Versprechen, die du mir am Sterbebett und am Grab gegeben hast. Vergiss das, was ich dir aus meiner Wut heraus gesagt habe. Vergiss all das.

In dem Moment, in dem du diese Zeilen liest, öffne ich den Schleier deiner Traurigkeit und zeige dir die Wut. Fühle sie, lass sie zu, tauche in sie hinein. Schreie, tanze, weine, schreibe, male oder laufe sie hinaus. Finde deinen Ausdruck, wie du ihn immer gefunden hast, wenn ich zu laut gewesen bin. Geh dort hindurch. So lässt du los. So wirst du frei. So findest du den Frieden, der die ganze Zeit bei dir gewesen ist.

Schließe für einen Moment die Augen geliebtes Kind und fühle.
Fühle wie sich deine Brust hebt und senkt.
Fühle wie der Atem dich versorgt. Wie er dich hält, wie er dich nährt und wie er dir in jedem Augenblick das Leben schenkt.
Fühle, wie mit jedem Ausatmen der Augenblick stirbt.
Fühle, wie mit jedem Einatmen, ein neuer geboren gibt.

Gib dich diesen deinen Rhythmus hin. Höre dein Lied und gehe in genau diesem Rhythmus deinen Weg. Schritt für Schritt, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr.
Gehe deinen Weg. Gehe ihn so lange, bis ich dich wieder in meine Arme schließen kann und bis dahin streichle ich zärtlich deine Wange durch den Lufthauch, den du jetzt in diesem Augenblick verspürst. Ich bin da. Und auch wenn ich nun gehe, bin ich nie wirklich weg.

Ich liebe dich.“

Die spirituelle Nomadin hat gesprochen. Das waren die Worte eines Vaters an seine lebende Tochter. Übersetzt und zu Papier gebracht, von Jessica Josiger, am 31.10.2020 an Samhain, dem keltischen Fest des Übergangs. Hier im Niemandsland, wenn die Schleier ganz weit geöffnet sind, reichen sich Alltagswelt und die geistigen Welten die Hand und alles kommt zum Abschluss, was nun gehen darf. Altes stirbt und aus dieser Asche wird wird Neues geboren.

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