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Bild Kolumne Jennifer Otte Barfuß über alle Berge

Es war eine Nacht im Mai, als Mutter verschwand. 

Noch am Abend zuvor hatte sie David wie üblich ins Bett gebracht. Von meinem Zimmer aus konnte ich es trotz der Musik auf meinen Kopfhörern hören. Erst das Patschen von Davids kleinen Füßen auf dem Dielenboden. Dann Mutters Stimme, wie sie ihm leise vorlas und schließlich das Knarren der Tür, als sie sich aus seinem Zimmer schlich. 

Einen Augenblick später lugte sie um die Ecke zu mir herein. Ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten. Mit einem leisen Seufzer setzte ich die Kopfhörer ab. 

„Bist du noch nicht müde?“, fragte sie mit gesenkter Stimme. 

„Nein“, flüsterte ich zurück. „Gehst du schon ins Bett?“ 

Sie trug bereits ihr kurzes, hellgelbes Nachthemd, das sie von nun an in jedem meiner Träume tragen würde. Dieses letzte Bild – Mutter in ihrem Nachthemd im Türspalt – brannte sich in meine Netzhaut ein. 

„Ja, ich glaube schon“, sagte sie und rieb sich die Schläfen. „Das Wetter macht mir wieder Kopfschmerzen.“ 

Ich nickte, wünschte ihr eine gute Nacht und schob mir dann die Kopfhörer wieder auf die Ohren. Ich hatte es eilig, wieder mit mir und der Musik allein zu sein. Zu eilig, wie ich im Nachhinein oft dachte. Zu schnell hatte ich mich abgewandt. Doch ich hatte es ja nicht gewusst. 

Und so verschwand Mutter. Erst aus meinem Zimmer und später in der Nacht aus meinem Leben. 

Am nächsten Morgen waren ihre Seite des Bettes und Vaters Blick leer. 

Wir stellten das ganze Haus auf den Kopf und auch den Garten. Alles war noch an Ort und Stelle. Nur Mutter und ihr Nachthemd fehlten. Und noch etwas anderes fehlte mit ihr oder besser gesagt ohne sie in unserem Haus, aber das konnte ich nicht genau benennen. 

Ihre Schuhe standen noch neben der Haustür, wo sie immer standen, wenn sie zuhause war. Aus einem mir unbekannten Grund war das das schlimmste Detail. Ihre schmalen Schuhe, die vorn spitz zuliefen. Wie ein Versprechen standen sie dort. Niemand traute, sie anzurühren oder wegzustellen. Selbst als die Wochen vergingen und auch die Polizei die Suche allmählich aufgab, ließen wir die Schuhe dort stehen. Vielleicht, um die Normalität zu wahren. Vielleicht aus Hoffnung. Vielleicht aber auch, weil wir Angst hatten, dass wir, wenn wir die Schuhe beiseitestellten auch Mutter und die Erinnerung an sie beiseitestellen würden. 

Anfangs wich Vater Davids Fragen nach Mutters Verbleiben aus. Was hätte er auch antworten sollen? Schließlich gab es keine Spur von ihr. 

Doch eines Tages, nachdem David wieder und wieder „Wo ist Mama?“ gefragt und Vater dabei mit seinem winzigen, spitzen Zeigefinger wieder und wieder in die Seite gestochen hatte, fuhr Vater plötzlich herum. 

„Sie ist weg!“, schrie er. „Einfach weg. Über alle Berge, verstehst du?“ 

Während ich noch auf Vaters Worten herumkaute wie auf einem zähen Kaugummi, lief David in den Flur und kehrte mit Mutters Schuhen in den Händen wieder zurück. 

„Über alle Berge?“, fragte er. „Ohne Schuhe?“ 

„Ja, ohne Schuhe!“, rief Vater. Sein Blick ruhte wie gebannt auf Mutters Schuhen. Etwas in seinen Augen beunruhigte mich. „Barfuß über alle Berge!“ 

„Aber das piekst doch an den Füßen, Papa!“. David verzog das Gesicht zu einer Grimasse. 

Ich hätte laut loslachen können, aber das Lachen blieb mir irgendwo auf dem Weg zum Mund im Halse stecken. 

An diesem Abend brachte ich David ins Bett. Vater hatte nach dem Abendessen den Tisch abgeräumt und war bei jedem Gang in die Küche oder wieder zurück kurz im Flur stehengeblieben und hatte auf die leere Stelle gestarrt, wo zuvor Mutters Schuhe gestanden hatten. Nun standen sie neben Davids Bett. 

Ich fragte David, welche Geschichte ich ihm vorlesen solle. Doch als er zum Bücherregal huschte und mir einen Atlas auf den Schoß legte, stutzte ich. 

„Daraus kann man nicht vorlesen“, sagte ich und schob das Buch beiseite. 

David legte das Buch zurück auf meine Knie. 

„Auf welchem Berg ist Mama?“, fragte er und lehnte sich an mich. 

Ich schluckte. Er hatte Vaters Antwort wörtlich genommen. Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gelaufen. Weit weg und unter meine Bettdecke, wo ich allein sein konnte und seine traurigen Augen mich nicht anstarrten. 

Stattdessen suchte ich im Inhaltsverzeichnis des Atlas eine Weltkarte, auf der die Gebirge und höchsten Gipfel verzeichnet waren. Dann sah ich ihn an. 

„Was meinst du denn, wo sie ist?“ 

Davids Fingerkuppe glitt über die Doppelseite. Die Zunge hatte er mit konzentriertem Blick zwischen die Zähne geklemmt. 

Plötzlich stoppte er bei einem Berg unten rechts auf der Landkarte. 

„Ich glaube, sie ist hier.“ 

Mount Kosciuszko, 2228 Meter“, las ich laut. 

David versuchte, es mir nachzusprechen. Doch seine Zunge stolperte über die fremd klingenden Worte. 

„Der ist ganz weit weg. In Australien.“ 

Ich erinnerte mich an eine Erdkundestunde. Wir hatten über die Seven Summits, die höchsten Gipfel der sieben Kontinente gesprochen. Eine missverständliche Bezeichnung, denn auf dieser Liste standen neun Gipfel. Man hatte sich wohl nicht ganz einigen können, wie man die Grenzen der Kontinente absteckte. Ich glaubte, noch zu wissen, dass Mount Kosciuszko der niedrigste von ihnen war. 

„Dort ist sie“, sagte David. „Ganz bestimmt … und erlebt Abenteuer.“ 

„Ganz bestimmt“, wiederholte ich und strich geistesabwesend über den Vermerk auf der Landkarte. 

„Los, erzähl mir von Mamas Abenteuer auf diesem Mount irgendwas.“ 

Er rutschte tiefer in die Kissen und sah mich auffordernd an. Erneut wäre ich am liebsten geflohen. Doch ich blieb und begann zu erzählen. Ich wusste nicht, woher die Worte kamen, aber sie rutschten mir nur so von der Zunge. 

Von verschlungenen Pfaden sprach ich und Nächten unter freiem Himmel. Von den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens und von Wombats, Kängurus und Bergbesteigungen. Und natürlich von Mutters nackten Füßen. 

David lauschte ganz ruhig und erst, als ich davon sprach, wie Mutter nur haarscharf vor einem Alligator entkommen war, hörte ich ein leises Schnarchen und stahl mich aus seinem Zimmer. 

Von da an zeigte David jeden Abend auf einen Gipfel und ich musste eine Geschichte dazu erfinden. Ein Abenteuer, das Mutter gerade irgendwo auf der Welt erlebte. 

David verstand bald, dass die dunkleren Flecken auf der Landkarte höhere Berge darstellten, während die helleren Punkte niedrigere Gebirge zeigten. 

Anfangs wies er vor allem auf die höchsten Gipfel, sodass wir die Seven Summits bald durchhatten. 

Irgendwann fiel mir auf, dass er an Tagen, wenn er Mutter besonders zu vermissen schien, auf die höheren Berge deutete. 

Am Tag seiner Einschulung zum Beispiel war es der K2 mit 8611 Metern Höhe. Den hatten wir schon einmal gehabt, weswegen ich mir ein zweites Abenteuer voller Lawinen, Schneeleoparden und Gletscher einfallen lassen musste. 

Als wir das erste Mal ohne Mutter in den Urlaub fuhren, zeigte er auf den Kilimandscharo mit 5895 Metern und an seinem Geburtstag auf den Denali mit 6190 Metern. 

An Tagen dagegen, an denen er weniger an Mutter dachte, wies er immer auf Berge unter 2000 Metern. 

Mit der Zeit wurde die Höhe der Berge, auf die David wies, wie ein Code zwischen uns. Je höher der Berg, desto größer das Vermissen. An diesen Tagen gab ich mir dann besondere Mühe mit der Geschichte und flocht Erinnerungen an Mutter hinein. Wie sie ihre Haare über Kopf föhnte. Wie sie im Alltag kleine Lieder erfand. Die Art und Weise, wie sie ihre Schuhe in die Ecke kickte, wenn sie nach Hause kam. 

Kleine Einzelheiten, von denen ich nicht wollte, dass David sie vergaß. Vielleicht hatte ich auch nur Sorge, ich könnte sie vergessen. Indem ich sie in die ausgedachten Abenteuer einbaute, blieben sie lebendig und machten die Geschichten gleichzeitig glaubhafter, sodass ich mich manchmal selbst erinnern musste, dass sie eben nur das waren: Geschichten. 

Als wir mit den Gebirgen durch waren, machten wir mit den Gewässern weiter. Mutter segelte auf dem Atlantischen Ozean, schwamm mit Delfinen in der Adria und tauchte auf einer Expedition zum Marianengraben. Danach kamen Wälder, Wüsten, Halbwüsten, Polarregionen, bekannte Städte und Inseln dran. 

Als David zehn wurde, kam der Abend, als er mich zum ersten Mal nicht um eine Geschichte bat. 

„Heute keine Geschichte“, sagte er und ich nickte bloß und schloss seine Zimmertür hinter mir. 

Ich hatte immer geahnt, dass dieser Tag kommen würde und mich gleichermaßen davor gefürchtet. Es fühlte sich an, als würde meine Welt gekippt und ich drohte herunterzurutschen. 

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Mein Kopf war es gewohnt, Geschichten über Mutter zu spinnen und ließ deswegen ein Bild nach dem anderen aufflackern. Doch ich schob sie alle weg. 

Als David beschloss, allein ins Bett zu gehen und die Geschichten dadurch plötzlich endeten, war es, als würde ich Mutter erneut verlieren. Komischerweise fühlte es sich jetzt sogar endgültiger an. 

Doch dann passierte es, dass die Geschichten zwar verstummten, aber das Leben lauter wurde. Ich machte die Schule zu Ende und das erste Mal Schluss. Ich bestand meinen Führerschein und verreiste mit Freunden. Ich bewarb mich an Unis und zog dann weg, um Geografie zu studieren. 

David sah ich manchmal an den Wochenenden und in den Sommerferien. Wir schrieben und sprachen oft miteinander, aber nie über Mutter. 

Als ihr Verschwinden sich zum zehnten Mal jährte, war ich gerade für ein Auslandsjahr in Australien. Mit ein paar Freunden wanderte ich den Mount Kosciuszko hinauf. Als wir auf dem langen Wanderweg Rast machten, nahm ich die Aussicht in mich auf. 

Hier hatte alles begonnen, auch wenn dieser Berg für uns damals nur ein Name auf einer Landkarte gewesen war. 

Ich dachte an David und Mutter und an verlassene Schuhe. 

Kurzerhand schlüpfte ich aus meinen Wanderstiefeln und Socken und drückte meine bloßen Füße in die aufgeweichte Erde neben dem Wanderweg. Dann schoss ich ein Foto von dem Abdruck und den Bergen im Hintergrund und schickte es David. Darunter schrieb ich: „Ich glaube, Mama war hier.“ 

Er antwortete nicht und ich bereute es schon fast. 

Doch ein paar Tage später, vibrierte mein Handy. Als ich Davids Nachricht öffnete, sah ich einen Fußabdruck im Sand. 

„Liebe Grüße aus Marseille. Ich glaube, Mama war hier.“ 

Von da an war es ungeschriebenes Gesetz, dass wir uns von jedem Ort, den wir bereisten, ein solches Foto schickten. 

Ein Fußabdruck im indischen Schlamm. Einer in den schottischen Highlands. Ein weiterer am Rande des Bodensees. Sandige Zehen auf Madeira. 

So ging es weiter und weiter. 

Die Geschichten zu den Fotos blieben unausgesprochen. Sie erzählten sich in meinen Gedanken jedoch von selbst. Und mit jedem Foto wurde mir klarer: Mutter war zwar nicht mehr da, aber immer hier. 

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