Jeder hat einmal von diesem Phänomen gehört – ein Mensch, der dem Tode nahe stand und hinterher davon berichtet, plötzlich über dem Geschehen geschwebt zu haben und dann durch einen langen Tunnel gegangen zu sein, an dessen Ende ein wunderschönes Licht war. Manche berichten auch, die Welt nach diesem Licht gesehen zu haben, an der Schwelle zum Paradies gestanden und Verstorbene wieder getroffen zu haben.
Früher galt eine Nahtoderfahrung als Erleuchtung und Vision, in der Antike sprach man auch von einer Reise in die Unterwelt und und im Werdegang eines Schamanen galten Seelenreisen während schwerer Krankheit als Zeichen für Auswählung. Aber auch heute stellt eine Nahtoderfahrung ein tiefgreifendes Ereignis im Leben der Betroffenen dar, welches meist ihre ganze Weltsicht auf den Kopf stellt. Für Außenstehende sind Nahtoderfahrungen kaum vorzustellen; denjenigen, die sie erlebt haben, fehlen meist die Worte, um ihre Erfahrungen in ihrer gefühlten Tragweite überhaupt beschreiben zu können.
Es gibt einige Theorien, materialistischer wie spiritistischer Art, die die Entstehung einer Nahtoderfahrung zu erklären versuchen. Letztliche Gewissheit hat man bis heute nicht.
Wann werden Nahtoderfahrungen erlebt?
Nahtoderfahrungen können in verschiedenen Situationen erlebt werden. Meist sind es Situationen, die eine Lebensbedrohung darstellen und in denen die Gehirnfunktionen stark beeinträchtigt sind, wie zum Beispiel nach einem Herzstillstand, im Koma, einer Narkose oder bei starkem Blutverlust. Bei Kindern, die eine Nahtoderfahrung erlebten, ist Ertrinken eine bekannte Ursache, ebenso wie hohes Fieber oder Atemnot.
Doch Nahtoderfahrungen, und hier ist der Begriff ein wenig undeutlich, können auch in Situationen auftreten, die nicht lebensbedrohlich sind, wie zum Beispiel bei einer Depression oder Isolation, in Meditation und auch in ganz gewöhnlichen Situationen, wie zum Beispiel bei einem Spaziergang.
Wie häufig kommt es zu Nahtoderfahrungen?
Schätzungsweise sollen in den letzten fünfzig Jahren 25 Millionen Menschen weltweit eine Nahtoderfahrung erlebt haben. Eine Umfrage aus dem Jahr 1998 hat ergeben, dass ca. 4,2% der deutschen Bevölkerung von Erfahrungen solcher Art betroffen sind, in den USA 5%.
Ob die Zahlen genau stimmen, weiß man nicht, denn Nahtoderfahrungen werden in Fällen einer lebensbedrohlichen Situation in Krankenhäusern nicht dokumentiert. Auch schweigen viele Patienten über solche Erfahrungen, aus Angst nicht ernst genommen zu werden.
Dennoch scheint die Zahl der bekannten Nahtoderfahrungen in den letzten Jahren immer stärker zu wachsen. Dies könnte man einerseits auf ein gesteigertes Interesse der Medien und der im sozialen und medizinischen Bereich tätigen Arbeitskräfte zurückführen, andererseits aber auch auf die sich verbessernde medizinische Technik, durch die viele nur sehr knapp dem Tod entrinnen.
Wer erlebt eine Nahtoderfahrung?
Wie bisher bekannt, kann jeder eine Nahtoderfahrung erleben. Nationalität, Geschlecht, Bildungsstand, Beruf oder Wohnort scheinen keine Rolle zu spielen.
Auch ist die Vorkenntnis über Nahtoderfahrungen unwichtig. Die Religion oder die Glaubenseinstellung spielen ebenfalls keine Rolle. So haben Christen, Buddhisten, Juden, Atheisten und andere gleiche Nahtoderfahrungen mit denselben Inhalten. Der einzige Unterschied zeigt sich während dem Berichten in der Wortwahl und der Interpretation der Erfahrung.
Alle bisher zum Thema durchgeführten Studien zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Alter des Betroffenen und dem Erleben einer Nahtoderfahrung gibt. Je jünger ein Patient ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er eine Nahtoderfahrung erlebt. Sehr selten berichten Menschen über dem 60. Lebensjahr von einer Nahtoderfahrung.
Inhaltlich sind sich Nahtoderfahrungen sehr ähnlich. Man kann sie in zwölf Elemente aufteilen, auch, wenn die Erfahrung als Ganzes und nicht in einzelnen Abschnitten erlebt wird. Die angegebenen Prozentzahlen zeigen auf, wie viele Menschen mit Nahtoderfahrung das jeweilge Element erlebt haben.
1. Das Unaussprechliche der Erfahrung
Der Betroffene kann zwar mitteilen, was er gesehen hat, doch empfindet er die menschliche Sprache als unzureichend, um die Gefühle während dieser Erfahrung beschreiben zu können.
2. Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe
Der Betroffene empfindet tiefe Ruhe und grenzenloses Glück. Physischer oder psychischer Schmerz wird während der Erfahrung nicht empfunden. (56%)
3. Die Erkenntnis, tot zu sein
Da der Betroffene, ein überaus klares Bewusstsein empfindet, erkennt er auch, dass er tot ist. Manche berichten, dass sie nach dieser Erkenntnis ein Geräusch hörten. (31%)
4. Das Verlassen des Körpers
Die eigene Reanimation oder Operation wird während einer außerkörperlichen Erfahrung wahrgenommen. Der Betroffene scheint in einer Position oberhalb seines Körpers zu schweben und kann hinterher meist verblüffende Details der Szene beschreiben, z.B. Operation – oder Reanimationsabläufe, Nutzung verschiedener Instrumente der Ärzte, Unterhaltungen etc. (24%)
5. Das Tunnelerlebnis
a) Der Betroffene berichtet, mit hoher Geschwindigkeit durch einen Tunnel gezogen zu werden, an dessen Ende ein helles Licht leuchtet. (31%)
b) In manchen Fällen ist der Aufenthaltsort auch ein dunkler Raum, in dem auf einmal irgendwo ein Licht erscheint, zu dem man sich hingezogen fühlt. 15% der Betroffenen empfinden diesen Raum als beängstigend.
c) 1 – 2% der Betroffenen berichten in dieser Phase von einem Höllenerlebnis, da sie aus diesem dunklen Raum nicht herauszukommen scheinen, kein Licht wahrnehmen und sehr starke Ängste aushalten müssen.
6. Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung
Meist wird nach dem Tunnelerlebnis von einer wunderschönen farbenfrohen Naturlandschaft berichtet, oft begleitet von einer außerweltlich schönen Musik. (29%)
7. Begegnung mit Verstorbenen
Nicht selten berichten Betroffene, dass sie bereits verstorbene und nahestehende Menschen getroffen haben, mit denen sie auch auf eine transzendente Art und Weise kommunizieren konnten. Es wird auch von Fällen berichtet, in denen der Patient Menschen getroffen hat, von deren Ableben er noch nichts wissen konnte. (32%)
8. Begegnung mit einem strahlenden Licht oder Lichtwesen
Der Betroffene berichtet, einem hellen Licht oder auch einem Wesen aus Licht begegnet zu sein, welches ihm das Gefühl vollkommener Akzeptanz und Liebe vermittelte. In diesen Momenten scheint man mit tiefem Wissen und tiefer Weisheit in Kontakt zu treten. (23%)
9. Lebensrückblick
Eine bekannte Erfahrung, die während einer Nahtoderfahrung auftritt, ist der Rückblick auf das gesamte Leben, von Geburt bis zum Tode, welches wie ein Film vor dem geistigen Auge abgespielt wird. Zeit und Raum scheinen während dieser Momente nicht vorhanden zu sein. Alles wird noch einmal durchlebt. Oft scheint der Betroffene auch über seine Taten zu urteilen und erkennt, welche tiefgreifenden und zusammenhängenden Auswirkungen sein Handeln hatte. (13%)
10. Ein Blick in die Zukunft
Der Betroffene hat das Gefühl, Einblicke in sein noch vor ihm liegendes Leben zu bekommen. Einige Menschen berichten von Einblicken, die sich später tatsächlich ebenso ereignet zu haben scheinen, wie z.B. die Art und Weise des Todes einer nahestehenden Person. Auch hier werden keine Zeit und kein Raum empfunden.
11. Das Wahrnehmen einer Grenze
Man erkennt, dass nach dem Überschreiten einer empfundenen Grenze keine Rückkehr in den eigenen Körper und ins Leben mehr möglich ist. Der Betroffene berichtet, bewusst entscheiden zu können, ob noch weiterleben möchte. Oft ist die Familie und die Verantwortung für die Hinterbliebenen der Grund für eine Rückkehr. In manchen Fällen will der Betroffene nicht zurück, doch bekommt das Gefühl vermittelt, dass seine Zeit noch nicht gekommen sei. (8%)
12. Die bewusste Rückkehr in den Körper
Im Moment der Rückkehr in den kranken und verletzten Körper empfindet der Betroffene heftigen körperlichen Schmerz, starke Kälte und ein Gefühl tiefer Enttäuschung über seine Rückkehr.
Die Inhalte einer Nahtoderfahrung sind weltweit dieselben, unabhängig von Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht oder Bildungsstand. Je mehr Elemente in einer Nahtoderfahrung vorkommen, desto tiefer ist diese. In Studien legte man dafür eine sogenannte Tiefenskala an, um die Intensität einer Nahtoderfahrung bestimmen und sie so mit anderen Schilderungen vergleichen zu können.
Die Folgen einer Nahtoderfahrung für den Betroffenen
Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel zitiert in seinem Buch Endloses Bewusstsein (2009)einen Betroffenen: „Ich hatte das Gefühl, ich wäre eine andere Person, aber mit der gleichen Identität.“
Grenzerfahrungen, wie zum Beispiel eine Nahtoderfahrung, stellen im Leben des Betroffenen ein tiefgreifendes Ereignis dar, gefolgt von einer schweren seelischen Erschütterung. Das Erlebte zu verarbeiten, das heißt in die Persönlichkeit, die eigene Geschichte und die Weltanschauung zu integrieren, erfordert einen unheimlich schweren und langwierigen seelischen Prozess. Die Betroffenen wissen meist gar nichts mit dieser Erfahrung anzufangen, wissen nicht, was sie davon halten sollen. Oft korreliert die Erfahrung auch mit den eigenen vorherigen Vorstellungen von dem Tod und so müssen sie mit der eigenen Vernunft kämpfen. Besonders schwer fällt die Eingliederung des Erlebten in den Alltag.
Alleine das Erlebte in Worte zu fassen fällt unheimlich schwer, noch schwerer fällt es, das eigene Empfinden auszudrücken. Die psychologische Verarbeitung eines solchen Erlebnisses ist ein tiefgreifender Prozess, der sich auf das gesamte Leben auswirkt und oft wird berichtet, dass die menschliche Sprache nicht dafür gemacht sei, Ereignisse solcher Art zu beschreiben.
Die Veränderungsprozesse nach einer positiven Nahtoderfahrung sehen meist wie folgt aus:
Selbstakzeptanz und ein verändertes Selbstbild
Während einer Nahtoderfahrung werden oft transpersonale Aspekte erlebt, die Aufschluss über das wahre innere Wesen der eigenen Person liefern können. Oft ist ein gesteigertes Selbstwertgefühl die Folge, sowie das Erkennen neuer Denkmuster, eines neuen Körperbewusstseins und eines starken Wissensdurstes bezüglich philosophischer und naturwissenschaftlicher Themen.
Mitgefühl für andere
Es wird von einem ganz neuen Lebensgefühl berichtet. Da in einer Nahtoderfahrung meist das Gefühl unendlicher Akzeptanz und Liebe verspürt wird, können die Betroffenen im Nachhinein auch mit ihren Mitmenschen gefühlvoller, respektvoller und toleranter umgehen. Manche wechseln später ihren Arbeitsplatz zum Beispiel in pflegerische Berufe oder engagieren sich ehrenamtlich. Ein starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Wahrheit nimmt Platz in Denken und Handeln ein.
Wertschätzung des Lebens
Die Sicht auf das Leben verändert sich. Auf die kleinen Dinge im Leben wird ein höherer Wert gelegt und alles mit einem größeren Bewusstsein wahrgenommen. Eine tiefe Zufriedenheit und Offenheit gegenüber der Welt stellt sich ein. Auch ist die Vorstellung von Zeit fremd geworden und man genießt einzelne Augenblicke viel stärker. Status, Geld und materieller Besitz verlieren an Bedeutung.
Befreiung von Todesangst und Glaube an ein Leben nach dem Tod
Die Angst vor dem Tod geht größtenteils verloren, dafür wächst der Glaube an ein persönliches Weiterleben. Man weiß, dass man den Tod in dem Sinne schon einmal erlebt hat und ihm somit quasi die Ungewissheit genommen wurde.
Spirituelle Neigungen nehmen zu beziehungsweise entwickeln sich, auch steigert sich die Religiosität. Auffallend ist, dass einige Menschen dennoch aus der Kirche austreten, so, als wöllten sie sich nun nicht mehr an eine irdische Instanz binden wollen.
Körperliche Veränderungen und erhöhte intuitive Sensibilität
Betroffene schildern, viel stärkere Sinneseindrücke zu erleben. Sie sind Lichtempfindlicher und Geräuschempfindlicher, haben stärkere Geschmackswahrnehmung und nehmen Berührungen intensiver wahr. Oft kann körperliche Nähe nicht mehr ertragen werden, auch entwickelt sich ein Bedürfnis nach ruhigerer und harmonischerer Musik.
Interessant ist außerdem, dass Betroffene von verstärkter Intuition berichten und von einer Welle an Informationen aus einer anderen Dimension überschwemmt zu werden scheinen. Die Erinnerungsfähigkeit an Träume nimmt zu, somit das Erleben von Déja vu – Momenten. Prophetische Gefühle, telepathische Gedanken und das Wahrnehmen von „Erscheinungen“ kommen bei einigen Betroffenen auf.
Allerdings gibt es, wie bereits erwähnt, auch negative Nahtoderfahrungen, die sogenannten Höllenerlebnisse. Diese sind weitaus problematischer in das Leben zu integrieren und haben nicht nur eine schwere seelische Erschütterung zur Folge, sondern meist auch starke Depressionen und Angststörungen. Die Angst vor dem Tod nimmt gesteigert zu, sowie ein Gefühl des Ausgeliefertseins.
Im Allgemeinen stellt sich aber meist als größte Schwierigkeit der Umgang mit den Mitmenschen heraus. Angehörige des Betroffenen, sowie auch Ärzte, Psychologen und Pflegekräfte reagieren oft mit Ungläubigkeit und Beschwichtigung. Aus Angst vor solchen Reaktionen trauen sich viele Menschen nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen, was den Verarbeitungsprozess um ein Vielfaches erschwert, wenn nicht so sogar zum Erliegen bringt. Es stellte sich heraus, dass der Umgang mit dem Ereignis vor allem dann erfolgreich gemeistert wurde, wenn das Umfeld mit Toleranz, Geduld und offenem Interesse reagierte. Für Menschen, die solche Erfahrungen nicht erlebt haben, scheint es unheimlich schwer, mit Phänomenen dieser Art umzugehen, gerade weil der Betroffene erkennt, dass ihm die geeigneten Worte zur Beschreibung des Ereignisses fehlen. In unserer heutigen Gesellschaft ist das Sterben und der Tod in Krankenhäuser, Hospize und Pflegeheime verlagert worden, sodass man mit so einem zentralen Bestandteil des Lebens wie Sterblichkeit und Tod fast gar nicht mehr in Berührung kommt.
Nahtoderfahrungen – Part II
Forschungsgeschichte und Theorien von Anna Schlimpen
Die Erforschung von Nahtoderlebnissen ist ein Teilgebiet der Thanatologie (gr. thánatos, Tod), die interdisziplinäre Wissenschaft von Tod und Sterben, die sich Ende der 60er Jahre in den USA formte.