Jenny Otte

Die Geschichte der drei Schwestern

Ein Trauermärchen

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7 min Lesezeit

Es waren einmal drei Schwestern, deren Vater sehr sehr krank war. Jeden Tag kamen sie an sein Bett und er sah noch etwas schwächer aus als am Tag zuvor. Sie wussten, dass er nicht mehr lange leben würde und taten ihr Bestes, um ihm seine letzten Tage so schön wie möglich zu machen.

Die eine las ihm jeden Abend aus einem Buch vor und massierte ihm die Füße. Die andere schaute sich mit ihm Fotos an und sprach mit ihm über gemeinsame Erinnerungen. Die dritte sang ihm etwas vor und streichelte dabei seine Hand.

So wurden die letzten Tage des Vaters so intensiv und schön, dass er seine Schmerzen fast vergaß. Am Abend, bevor er starb, sah er seine Töchter der Reihe nach an und lächelte.

„Ihr seid die besten Töchter, die ich mir wünschen kann“, sagte er.

Mit Tränen in den Augen gingen sie zu ihm und küssten ihn eine nach der anderen auf die Stirn. Dann löschten sie das Licht und ließen ihn schlummern.

Als sie am nächsten Morgen das Zimmer betraten und die Vorhänge zur Seite zogen, sahen sie, dass ihr Vater verstorben war. Die erste Tochter machte sich sofort daran, ihn zu waschen und ihm seine schönste Kleidung anzuziehen.

Die zweite Tochter brach in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper. Die Gefühle und der Schmerz waren so stark, dass sie kaum atmen konnte.

Die dritte Tochter verließ den Raum. Sie wollte ihren Vater nicht tot sehen und konnte nicht verstehen, wieso gerade er sterben musste.

Nachdem der Körper ihres Vaters am Abend abgeholt worden war, trafen sich alle drei Schwestern beim Abendessen wieder. Die erste Schwester hatte ein riesiges Festmahl gekocht und den Tisch dekoriert.

Die zweite Schwester weinte noch immer und war so traurig, dass sie nichts essen wollte. Sie konnte nicht einmal ans Essen denken nun, da ihr Vater tot war und verstand nicht, wie ihre erste Schwester nur solch ein Festmahl kochen konnte angesichts des Todes ihres Vaters. Sie glaubte, dass ihre Schwester gar nicht traurig sei und das machte sie selbst noch trauriger. So verließ sie das Zimmer.

Die dritte Schwester wollte allein essen und mit niemandem sprechen. Schon der Anblick der Tränen ihrer Schwester war ihr zu viel. So verließ auch sie das Esszimmer.

Die erste Schwester stand allein vor ihrem wunderschön gedeckten Tisch und wusste nicht, was sie tun sollte. Es machte sie traurig und wütend, dass die anderen ihre Speisen nicht essen wollten. So brachte sie die feinen Speisen zu Nachbarn und Freunden und ging dann auf ihr Zimmer.

In dieser ersten Nacht nach dem Tod ihres Vaters kam die Trauer und besuchte jede der Töchter. Sie klopfte an die Tür der ersten Schwester, doch als diese die Trauer sah, schickte sie sie weg.

„Ich kann dich jetzt noch nicht gebrauchen. Ich muss die ganze Bestattung organisieren und mich um alles kümmern.“

…und streichelte dabei seine Hand…

Also ging die Trauer wieder und klopfte an die Tür der zweiten Schwester. Als diese die Trauer sah, ließ sie die Trauer ein.

„Ich habe schon auf dich gewartet“, sagte sie und lud die Trauer ein, bei ihr zu bleiben, denn sie wusste, dass diese all ihre Gefühle verstehen würde.

Als die zweite Schwester schlief, schlich sich die Trauer aus dem Zimmer und klopfte an die Tür der dritten Schwester, doch niemand machte auf. Die dritte Schwester wollte niemanden sehen und niemanden hören. Also ging die Trauer zurück ins Zimmer der zweiten Schwester, legte sich zu ihr, trocknete ihre Tränen und schloss sie in die Arme.

Tage und Wochen vergingen und während die zweite Schwester in der Trauer einen treuen Freund und Wegbegleiter gefunden hatte und die dritte kaum aus ihrem Zimmer kam, organisierte die erste die Beerdigung, regelte die Erbschaft und mistete die Sachen ihres Vaters aus. Sie fühlte sich mit allem allein gelassen und doch gab ihr die stetige Beschäftigung ein Gefühl von Beständigkeit und lenkte sie von ihren traurigen Gedanken ab.

Als alles erledigt war und die erste Schwester nichts mehr fand, was sie organisieren konnte, klopfte die Trauer erneut an ihre Tür. Als die Schwester die Tür öffnete und die Trauer sah, fiel sie ihr erleichtert in die Arme.

„Trauer, es tut mir so leid, dass ich dich abgewiesen habe. Ich konnte einfach noch nicht an dich denken, als es noch so viel zu tun gab, doch jetzt brauche ich dich.“

Die Trauer schloss sie in die Arme und streichelte ihr Haar. Dann sagte sie:

„Es gibt nichts zu entschuldigen. Du hast deine Zeit gebraucht. Das ist okay. Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst. Wenn du mich einmal für einige Zeit nicht hier haben willst, musst du es nur sagen. Ich werde dir nie böse sein und zurückkommen, sobald du mich rufst.“

„Danke“, sagte die Schwester und fühlte sich um einiges leichter.

„Ich glaube, meine Schwestern dachten, mich würde der Tod unseres Vaters nicht berühren, weil ich einfach weitergemacht habe.“

„Auf deine Art und Weise hat er dich berührt. Ihr seid drei Schwestern und jede von euch ist anders.“

„Muss ich jetzt auch die ganze Zeit weinen wie meine zweite Schwester?“, fragte sie die Trauer.

„Du musst gar nichts“, sagte die Trauer. „Wir können zusammen tun, was immer du möchtest.“

Da lächelte die erste Schwester und nahm die Trauer an die Hand. Gemeinsam bastelten sie die ganze Nacht an Fotoalben, malten Bilder und backten den Lieblingskuchen ihres Vaters.

Weitere Wochen und Monate gingen ins Land und hin und wieder klopfte die Trauer erneut an die Tür der dritten Tochter, doch die Tür blieb verschlossen.

Die Trauer akzeptierte es und kam von Zeit zu Zeit wieder.

Die erste und zweite Schwester machten sich Sorgen um die dritte, doch die Trauer beruhigte sie:

„Sie hat alle Zeit der Welt. Wenn sie mich eines Tages braucht, werde ich da sein.“

Die Zeit verging und während die erste Schwester den ersten Todestag des Vaters vorbereitete und dafür den Garten schmückte, Speisen vorbereitete und eine Rede schrieb, malte die zweite Schwester ein Bild mit all ihren Gefühlen, die sie in den vergangenen Monaten erlebt hatte.

Das Bild war keineswegs eintönig. Dort fanden sich Traurigkeit, Wut, Angst, Dankbarkeit, Verzweiflung, Freude, Erschöpfung, Hoffnung, Taubheit, Liebe und noch vieles mehr.

Die Trauer betrachtete das Bild und sagte zu der zweiten Schwester:

„Genauso bin ich. Die Menschen denken oft, wenn sie mich einlassen, wird alles dunkel und kalt, aber in Wirklichkeit bin ich bunt und bringe dutzende Gefühle in meinen Taschen mit. Mal ist ein Gefühl präsenter als das andere, aber sie sind alle da.“

Die zweite Schwester lächelte und umarmte die Trauer.

„Und wird das immer so sein?“, fragte sie.

Die Trauer sah sie an und sagte:

„Einige Farben werden vielleicht etwas blasser werden, bis auf die Liebe. Die Liebe wird immer strahlender und alle anderen Gefühle dürfen mit ihr sein.“

„Das klingt schön“, sagte die zweite Schwester.

„Ja, das stimmt“, sagte die Trauer und nahm sie an die Hand.

Gemeinsam gingen sie zu dem Fest, das die erste Schwester für den ersten Todestag des Vaters organisiert hatte. Während die erste Schwester den Kuchen anschnitt und die zweite ihrer Schwester ihr Bild zeigte, blickte die Trauer hoch zum Fenster der dritten Schwester. Dort sah sie diese stehen. Als die dritte Schwester sah, dass sie beobachtet wurde, verschwand sie.

Das kleine Fest war voller Erinnerungen. Es wurden Fotos angeschaut, Kuchen gegessen und eine Kerze für den Vater angezündet.

Als die Sonne langsam unterging und die erste und die zweite Schwester gemeinsam ins Haus gingen, blieb die Trauer sitzen und sah sich den Sonnenuntergang an. Plötzlich hörte sie Gras rascheln und die dritte Schwester setzte sich neben sie auf die Wiese.

Die Trauer blieb ruhig sitzen und wartete.

Nach einiger Zeit fing die dritte Schwester zu reden an.

„Trauer, ich habe versucht, dich zu verdrängen, aber nun kann ich das nicht mehr. Jetzt ist schon ein Jahr vergangen und meine Schwestern sind schon so viel weiter und ich weiß nicht, ob ich mit dir leben kann.“

… Ja, nur du allein …

Die Trauer wandte der dritten Tochter das Gesicht zu.

„Wenn du es möchtest, wirst du es lernen“, sagte die Trauer.

„Aber sollte ich das nach einem Jahr nicht schon längst können? Meine Schwestern denken bestimmt, ich sei nicht normal.“

Die Trauer tätschelte die Hand der dritten Schwester.

„Ich komme und gehe bei jeder von euch zu einer anderen Zeit. Du bist genauso richtig, wie du bist. Ich werde eine jede von euch auf andere Weise ihr Leben lang auf ihrem Weg begleiten.“

„Aber wenn ich weitergehe, verliere ich dann nicht die Verbindung zu meinem Vater?“

„Du nimmst ihn mit, wohin auch immer du gehst.“

„Und dich auch?“

„Mich auch, auch wenn ich nicht immer sichtbar sein werde“, sagte die Trauer.

„Und ich entscheide, wann ich dich sehen will und wohin ich gehe?“, fragte die dritte Schwester neugierig.

„Ja, nur du allein“, antwortete die Trauer.

„Dann bin ich froh“, sagte die Schwester und nahm die Trauer bei der Hand.

Gemeinsam gingen sie ins Haus zu den anderen beiden. Die erste und die zweite Schwester waren froh, sie zu sehen und schlossen sie in die Arme.

Sie aßen gemeinsam, sprachen über ihren Vater und die Trauer saß mit am Tisch und war für alle da. Und wenn hin und wieder eine Schwester Angst hatte, die anderen könnten sie missverstehen in ihrer Trauer, zwinkerte die Trauer ihr zu und gab ihr die Erlaubnis, auf ihre Art mit dem Verlust umzugehen.

Und so kam es, dass jede Schwester ihren eigenen Weg ging. Und obwohl diese Wege so unterschiedlich waren und der eine mal beschwerlicher wirkte als der andere und die Schwestern sich hin und wieder aus den Augen verloren, fand doch jede ihre eigene Route und ging mit der Erinnerung an den Vater im Herzen durchs Leben. Und die Trauer war stets an ihrer Seite und half ihnen, wann immer sie sie brauchten und versicherte ihnen, dass sie auf dem richtigen Weg waren, denn das waren sie. Eine jede für sich und doch gemeinsam.


Jenny hat das Märchen für ihren Podcast „vom Lieben und Loslassen“  eingelesen – hier ein kleiner Ausschnitt 

Die drei Schwester Jenny Otte

Die Geschichte der drei Schwestern

Mein Name ist Jennifer Otte.
Ich bin 24 Jahre alt. Meine Mutter nahm sich das Leben, als ich sechs Jahre alt war. Knapp zehn Jahre später starb mein Vater infolge einer Krebserkrankung im Hospiz. Ich rede offen über meine Erfahrungen mit Trauer und Verlust, sowohl auf Social Media als auch in meinem Podcast „Vom Lieben und Loslassen“.
Der Podcast ist mein Herzensprojekt. Dort spreche ich allein, aber auch mit Interviewgästen über den Tod, Trauer und das Loslassen. Ich möchte damit einen Ort schaffen, an dem wir uns gemeinsam erinnern, lachen und weinen und unsere Trauer teilen können.

Momentan studiere ich noch Germanistik, Französisch und Bildungswissenschaften. Daneben biete ich nach und nach Trauerbegleitung in verschiedenen Formen an (Onlinekurs, Gruppen, Einzelbegleitung (momentan alles online)).

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