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Buntes Unkraut

Eine Geschichte über die Liebe und den Tod

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In letzter Zeit denke ich oft an dich. Mitten in der Nacht um zwei, drei Uhr vielleicht, drängt sich das Bild von dir auf deiner Kinderschaukel im Garten in meinen Kopf und lässt sich nicht mehr wegschieben. Dann fühle ich mich, als hätte mir ein Boxer in die Magengrube geschlagen. So elend ist mir. Oft verkrieche ich mich im Bett und tue so, als ob die Welt hinter den Vorhängen nicht mehr existiert.

Deinen Namen hat dein Vater ausgesucht, ohne mir Bescheid zu sagen. Die Zeit nach deiner Geburt war geprägt durch unruhigen Schlaf und Schmerzen. Als dich die Schwester eines Tages ins Zimmer brachte, hattest du ein kleines Armband mit deinem Namen. Luisa. Nach seiner Mutter. Nichts hattest du an dir, was dieser Frau ähnlich gewesen wäre.

Die ersten Wochen hast du dich nicht ablegen lassen. Du bist an mir geklebt und hast ohne mich geweint. Eine elendige Sommerhitze heizte das Haus am Tag wie einen Backofen auf, der erst in der Nacht nach und nach wieder abkühlte. Ich lernte, alles einhändig mit meiner linken Hand zu machen, während ich dich mit meiner rechten Hand an meinen Körper drückte. Auch von ihm hast du dich nicht tragen lassen.

Nur eine Handvoll Nächte habt ihr gemeinsam im selben Haus verbracht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du ihn jemals bewusst wahrgenommen hast. Bald war er nur noch ein Gast in unserem Haus. Er ist so selbstverständlich gekommen und gegangen, als hätte es zwischen uns eine Abmachung gegeben. Irgendwann im Juli, als es so heiß war, dass mir fast alle Pflanzen im Gemüsegarten vertrocknet sind, kam er gar nicht mehr. Ich rief seine Mutter an. Sie wusste von nichts. Wahrscheinlich hat sie uns absichtlich nichts gesagt. Vielleicht hatte er sie auch darum gebeten.

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Drei Tage danach sind wir von der Greißlerei in eine halb leere Wohnung zurückgekommen. All die Dinge, die er als seine Sachen betrachtete, waren weg. Kein Zettel an der Tür, keine Nachricht auf dem Küchentisch, nicht einmal eine Abschiedskarte für dich, die du dir hättest aufheben können. Ich hätte vor Wut fast aufgeschrien, hättest du nicht im Kinderwagen geschlafen. In meinem Kopf reihte sich ein Schimpfwort ans andere, ein Sturm an Verunglimpfungen und hässlichen Wörtern, die ich nie aus deinem Mund hätte hören wollen.

Von da an hat es nur noch uns zwei gegeben. Wie zwei Geister wohnten wir allein in dem Haus. Mit großen Augen wurden angestarrt, wenn wir das Haus verließen. Dabei konntest du ja noch gar nicht verstehen, was los war und wieso wir wie zwei Ausgestoßene durch die Gassen wanderten. Wieso uns manche Leute nicht mehr ansprachen, weil sie nicht wussten, was sie sagen und wie sie mit uns umgehen sollten. Ich war eine Liegengelassene und du ein Nebenprodukt.

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.. Ich war eine Liegengelassene und du ein Nebenprodukt.
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Als du älter wurdest, gingen wir manchmal extra über die Feldwege und die wenig begangenen Gässchen, um den Klatschweibern, den Scheinheiligen und den Ignoranten aus dem Weg zu gehen. Du an meiner Hand hast sie dabei gar nicht so wahrgenommen. Erst ein wenig später hattest du deine Lieblingsmenschen im Dorf. Die Greißlerin, die dir jedes Mal ein Stück Schokolade schenkte, bevor wir wieder gingen. Die alte Marchhart, die uns im Sommer kübelweise Kirschen und Marillen vorbeibrachte und deren Mann, der dir noch kurz vor seinem Tod zeigte, wie man Kirschkerne besonders weit spucken kann. Und das Nachbarsmädchen, das dir immer die Haare zu einem Zopf geflochten hat, während du mit den Straßenkreiden vor dem Haus maltest. Der Rest der Menschen war für dich nur eine graue Menge, von denen sich kaum jemand für dich hervorhob.

Kurz vor deinem sechsten Weihnachten unterschrieb ich die Scheidungspapiere, während deine Hände neben mir einen Teigklumpen bearbeiteten. Ich hatte kurz Angst, du würdest versuchen, einen Blick auf den elendigen Buchstabenhaufen zu werfen und schrieb meine Unterschrift so hastig auf die Linie, dass sie schief war. Nicht einmal hast du aufgeschaut. Der Boden um dich herum war mit einer sanften Mehlschicht bedeckt und Teig klebte in deinen Zöpfen. Ich zupfte ihn dir dann raus, bevor er zu hart geworden wären.

Du bist unruhig gewesen. Mir fiel es immer schwer, dir nicht nachzugehen, wenn du das Haus zum Spielen verlassen hattest. Jeden Abend kamst du mit Kletten in den Haaren und zerkratzten Knien zurück, oft auch mit Grashüpfern und Schnecken in den Händen und manchmal mit kleinen Blumensträußchen für mich. Ich lernte das Geräusch lieben, wenn du dich dann auf die Sitzbank fallen liest und dabei zufrieden ausgeatmtet hast, als hättest du einen besonders anstrengenden Arbeitstag hinter dich gebracht. Dann gab es Kakao, den du immer nur zur Hälfte ausgetrunken hast. Nachdem du eingeschlafen warst, holte ich Schneckenhäuser, Münzen, Blumenketten, Steine oder kleine Fetzen Papier aus deinen Taschen.

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Dann gab es Kakao, den du immer nur zur Hälfte ausgetrunken hast.
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Ihn haben wir an einem Nachmittag im Herbst in der Stadt wiedergesehen, als wir uns ein Eis nach der Schule holten. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben, um sie von der Novemberkälte zu schützen. In seinem Gesicht sah ich Augenringe und grobe Gleichgültigkeit. Neben ihm fremde Gestalten, alle lebendiger und bunter als er. Zwei kleine Jungs mit hellbraunen Haaren wuselten um ihn herum, während sie sich gegenseitig einen Ball zuwarfen. Eine Frau saß dicht neben ihm auf der Bank, ihren Blick den Kindern zugewandt. Sie sah hübsch aus.

Das Geschrei der Kinder hallte über den Platz bis zu uns und zwang dich zum Hinsehen. Für einen kurzen Moment hatte ich ein dumpfes Gefühl in der Magengrube, aber du hast ihn nicht erkannt. Zu früh war alles passiert. Ich aber beneidete die Kinder für dich, hasste ihn dafür, dass er dich verschmähte. Hätte ich ihn zu Besuchen zwingen sollen? Hätte ich dir etwas Gutes damit getan oder hätte ich damit nur eine andere, schwierigere Zukunft für dich besiegelt? Ich wusste ja nicht einmal, ob ich es überhaupt zusammengebracht hätte. Wir fuhren nach Hause, ohne dass er dich bemerkt hatte.

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Keinen Schritt konnte man im Haus tun, ohne an deinem Namen vorbeizulaufen.
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Deine Zeichnungen waren überall. An den Wänden, am Kühlschrank, auf den Tischen, am Boden und an den Spiegeln. Du warst schnell dabei, das dünne Papier mit Klebestreifen dort zu befestigen, wo dir das Bild nach kurzer Suche am besten gefallen hatte. Ich konnte nichts wieder abnehmen. Erst wenn sich deine Zeichnungen von selbst von ihren Plätzen lösten und zu Boden fielen, legte ich sie in eine Kiste. Auch der alten Marchhart, die damals schon allein in ihrem Haus lebte, hast du oft Bilder vorbeigebracht. Sie ließ sich jedes von dir signieren, weil Künstler ihre Bilder immer kennzeichnen, bevor auch sie deine Bilder an Türen und Schränke klebte. Danach hast du alles signiert. Deine Zeichnungen, Hausaufgaben, sogar kleine Briefe, die du mir oder deinen Freunden geschrieben hattest. Keinen Schritt konnte man im Haus tun, ohne an deinem Namen vorbeizulaufen.

Im Sommer vor deinem Schulwechsel gab es wieder eine Hitzewelle. Die Tage verschmolzen miteinander und waren kaum noch voneinander unterscheidbar. Mit den anderen Kindern bist du fast jeden Tag zum Bach hinuntergelaufen, um Steine aus dem ausgetrockneten Bachbett zu klauben, die sonst für euch immer unerreichbar waren. Unkraut, das der gnadenlosen Hitze entrinnen konnte, hast du gezupft und der Greißlerin für ihre Hasen gebracht. Abends fraßen die Gelsen* unsere Körper fast auf, wenn wir zu lange draußen vor dem Haus saßen. Du meintest, dass wir Süß schmecken müssen, weil wir viel vom selbst gemachten Obstsaft trinken. Die alte Marchhart brachte uns einen Ventilator, den wir im Schlafzimmer vors Bett stellten. Anders hätten wir damals kein Auge zutun können. Und irgendwann, zwischen Radausflügen und aufgeschrammten Knien, kühler Kräuterlimonade und Sonnenbränden, ging der Sommer fast unbemerkt von uns vorüber.

Gestorben bist du mir an einem Mittwoch.

Ein paar Stunden zuvor, direkt nach dem Aufstehen, hatten wir einen Disput. Du hast darauf bestanden, das blaue Sommerkleid zu tragen, obwohl es dir schon zu kurz war und sich die Nähte am Rücken auch spannten. Alle anderen Kleider, die ich dir als Alternativen aufs Bett legte, lehntest du ab. Ich gab nach. Keine fünf Minuten später warst du barfuß und die Haare zu einem unförmigen Zopf zusammengebunden, aus der Tür.

Um die Mittagszeit warst du dann tot unter dem großen Kirschbaum der Nachbarn gelegen.

Die Nachbarin holte mich. Ihre Augen rot und mit bebender Stimme stand sie auf einmal in der Küche hinter mir, zerrte an meinem Arm und riss mich vom Herd weg. Ihre Furcht schwappte sofort auf mich über. Ich lief vor der Nachbarin aus dem Haus und stand dann hilflos da, weil ich nicht wusste, wohin mich meine Beine überhaupt tragen sollen. Es war eine Tortur, hinter der Nachbarin herzulaufen. Sie und ihre Bewegungen waren in weißer Panik, unkontrolliert und kopflos.

Das Nachbarskind kniete mit weit aufgerissenen Augen neben dir. Er streckte seine Arme nach seiner Mutter aus, damit sie allein, ihn aus der Situation reißt. In dem Moment spürte ich schon einen Stich. Wir knieten um dich herum und du lagst da, wie eine regungslose Puppe mit pechschwarzen Haaren in einem zu kurzen Kleid mit Blut am Kopf. Wer schlussendlich die Rettung rief – ich weiß es bis heute nicht. Sie brachten dich fort, während der kleine Fetzen Welt, in dem du dich bewegt hast, in Schockstarre zurückblieb.

Ich habe es deinem Vater nicht gesagt. Eigentlich habe ich es niemandem erzählt, und doch waren viele Menschen auf deiner Beerdigung. Schaulustige, Anteilnehmende, Trauernde, Tratschtanten. Die Nachbarsleute sind weiter vorne gestanden, der Sohn mit einem undefinierbarem Gesichtsausdruck in der Mitte. Am liebsten wäre er wahrscheinlich aufgestanden und aus der Kirche gelaufen und hätte er es gemacht, ich hätte es ihm gleichgetan. Noch nie in meinem Leben bin ich mir verlorener vorgekommen als damals in der ersten Reihe in der Kirche.

Sie gaben mir die Schuld, der Nachbarin, dem Kirschbaum und auch dem Sohn der Nachbarin, der jünger war als du. Dein Tod wurde im Dorf auseinanderdiskutiert, analysiert und erläutert und überall gab es Richter. Ich habe sie alle gehasst. Der Erdboden hätte sich auftun und sie alle, die Heuchler, die Hypokriten und die Maulzerreißer verschlucken müssen. Aber der Erdboden blieb verschlossen und ließ sie auf ihren Bänken vor den Häusern sitzen.

Nur ein paar Monate hielt ich es aus – dann zog ich weg. Ich traute mich nicht, viel mitzunehmen. Die alte Marchhart nahm deine Bilder ab und legte sie in die Kiste. In der neuen Wohnung stellte ich sie in eine Ecke des Abstellraums und verbarrikadierte sie regelrecht unter Decken und Mänteln. Erst vor Kurzem fand ich die Kraft, deine Bilder wieder anzusehen. Ich will nicht zu oft an dich denken. Es schleudert mich dann immer zurück ins Dorf, in unser Haus. Mir wird schlecht davon.

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Die neue Wohnung würde dir nicht gefallen.
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Die Wohnung würde dir nicht gefallen. Es gibt keine Wiesen vor der Tür, keine Schnecken, keine angezuckerten Felder im Winter und keine Vorgärten mit Blumen, die man im Vorbeigehen schnell pflücken kann, ohne dass es die Bewohner mitbekommen. Stattdessen Beton, Parkplätze und künstlich geschaffene Rasenflächen, die kaum betreten werden dürfen. Wäre es anders, ich würde es hier auch nicht aushalten.

Sie rufen mich manchmal an und fragen mich, ob ich zu Besuch komme. Vielleicht schaffe ich es irgendwann wieder zurück ins Dorf. Vielleicht wenn der Nachbarssohn ausgezogen ist, wenn das Haus in sich zusammengefallen ist, wenn die Klatschtanten nicht mehr auf ihren Bänken sitzen und Kartoffeln schälen, wenn es so viele neue Häuser und Gassen gibt, dass man den Ort nicht mehr wiedererkennt und ich die Kinder nicht mehr kenne, die mit ihren Rädern vor den Häusern auf und ab fahren.

Christina Kremser, Autorin aus Salzburg, Österreich

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