Kira Littwin

Annelie und Caspar

Eine Geschichte

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3 min Lesezeit

Sie trinkt ein Glas Wasser. Langsam. Bewusst. Sie spürt, wie die kühle, angenehme Flüssigkeit sacht ihren Hals herunter fließt. Sie stellt das Glas zurück auf den Tisch, streicht mit der Hand über den selbigen, spürt die kleinen Unebenheiten im alten Holz. Sie sieht die Kratzer und die Verfärbungen, die mit den Jahren hinzu gekommen sind, das kleine Brandloch, wo bei einer Party eine Zigarette ihre Spur hinterlassen hat. Jeder dieser Makel machte den Tisch einzigartig, gibt ihm seine eigene Geschichte.

Ob sie sich nicht einen neuen kaufen wollen, hatte Caspar gefragt. Aber sie wollte keinen neuen. Sie wollte diesen. Sie möchte all das, was er erzählt immer da haben. Wie viele Gespräche er gehört hat, wie viele Auseinandersetzungen er erlebt hat, wie viele Partys er ausgehalten hat und wie viele Persönlichkeiten an ihm gesessen, gespeist, getrunken, gelacht, geweint, gehofft haben. Sie könnte es nicht sagen. Jedes Mal, wenn Caspar seine Arbeitskollegen zum Essen einlud, bestand er auf eine Tischdecke. Der Tisch sei schließlich nicht mehr schön und wenn sie schon keinen neuen wollte… Er verstand sie nicht. Das machte Annelie nichts aus. Wenn er mal wieder meckerte, über den Tisch, machte sie ihnen einen Tee, setzte sich mit ihm hin und erzählte eine der Geschichten, die diesen Tisch zu etwas besonderem machte, auch für ihn.

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Kira Littwin

Sie erzählte über das erste Essen, das sie an diesem Tisch gegessen hatten, als er noch ganz neu war. Damals war er teuer und sie war so stolz gewesen, als sie ihn sich leisten konnten. Sie
erzählte von der Einweihungsparty in der neuen Wohnung, als der Tisch zu später Stunde zum
Tanzen missbraucht wurde und das ein oder andere Bier umgekippt ist. Sie erzählt ihm von den
Wochen, als sie sich getrennt hatten und er ausgezogen war und sie nächtelang mit ihren
Freundinnen an diesem Tisch saß. Sie weinte, ihre Freundinnen trösteten. Sie trunken Sekt und
lästerten über ihn.


Sie erzählte von dem Moment, als er sie gefragt hat ob sie ihn heiraten will. Sie hatten
gefrühstückt, nach einer langen Nacht und sie war völlig müde und fertig und er hatte sie
angeguckt, über die Tassen hinweg und ihr gesagt, dass sie wunderschön sei. Annelie hatte nur
gelacht und gemeint er müsse ja noch völlig betrunken sein, wenn er sie jetzt schön finden
würde. Caspar grinste nur. Heirate mich, sagte er, und stieß eine Tasse mit rotem Tee um als sie
ja sagte. Annelies Lieblingsgeschichte an dem Tisch ist die als sie Caspar sagen wollte, dass sie
schwanger ist. Sie hatte gekocht und er als er von der Arbeit kam war alles fertig. Aber
irgendwie war es nicht sein Tag und er war mies darauf. Eins führte zum anderen und sie
stritten sich. Caspar schrie, Annelie schrie, die Schüssel mit dem Salat ging zu Bruch, aus der
Schublade zerrte sie die Babysocke mit dem ersten Ultraschallbild und schmiss sie ihm zu
Füßen. Caspar war still, Annelie war still. Caspar weinte, Annelie weinte. Alles war gut.

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Wenn Caspar die Geschichte Freunden erzählte, ließ er immer den Teil mit den Tränen aus, aber
das störte Annelie nicht. An diesem Tisch hatte ihre Tochter ihr erstes Wort gesagt und ein paar
Jahre später auch geschrieben, leider nur ohne Blatt. Ihr Sohn hatte dort mit dem
Taschenmesser ein Peace- Zeichen eingeritzt, als er der Meinung war, seine Eltern wären zu
spießig. An diesem Tisch hatten sie gesessen, als Caspar sich entscheiden musste, ob er den Job in der anderen Stadt annehmen sollte oder nicht. An diesem Tisch hatten sie gesessen und
gebangt als ihre Kleine nach dem Abi alleine nach Afrika ging und als ihr Sohn Polizist wurde.
An diesem Tisch hatte ihre Tochter ihnen ihren ersten Freund vorgestellt, ihnen gesagt dass sie
heiratet und ihnen gesagt, dass sie Großeltern werden. An diesem Tisch hatten sie so viele
Weihnachten gefeiert, erst mit den eigenen Kindern, dann mit den Enkeln. Wenn sie ihm all das
erzählte, schmunzelte er immer ein bisschen. Naja, ein paar Jahre hält er wohl noch, war sein
Satz nach ihren Geschichten.


Annelie steht auf, kniet sich hin und sieht die Worte Für immer unter dem Tisch. Caspar hatte sie dort hingeschrieben in ihrer Hochzeitsnacht, er hatte es erst an ihrem ersten Hochzeitstag gesagt.


Es klingelt. Das muss ihr Sohn sein. Irgendwann wird sie ihm und seiner Tochter die Geschichte
erzählen, wie Caspar und sie entschieden, dass er keine weitere Chemo anfangen wird. Wie sie
weinten und wie sie beschlossen, glücklich zu sein über die Zeit die sie hatten und die zu nutzen, die blieb. Aber nicht heute. Heute würden sie alle ihre Kraft brauchen, um sich zu verabschieden. Draußen scheint die Sonne. Caspar hätte sich gefreut.

Familientrauerbegleiterin und freie Rednerin, Abschiedsgestaltung, Beratung,
Information & Prävention aus Hagen

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